TEMPORAMORES - Newsletter # 244 - 24.12.2015




KURZMELDUNGEN

Letzter Aufruf zum sinnlosen Geldverprassen in diesem Jahr in unserer beliebten Rubrik „The Best of the Rest“, mit einem guten halben Dutzend Bücher, die es bisher nicht in den Newsletter „geschafft“ hatten.

Angeführt wird diese Aufzählung ganz „natürlich“ vom zweiten monumentalen Paukenschlag, mit dem sich Shaun Usher seinen Platz auf unserem jahresendzeitlichen Lesepult sichert. Es handelt sich um eine Sammlung von Notizen, Aufzeichnungen, Zetteln – oder einfacher gesagt, von Listen – die den beziehungsreichen Titel 1. LISTS 2. OF 3. NOTE: AUFZEICHNUNGEN, DIE DIE WELT BEDEUTEN (Heyne, ISBN 978-3-453-27000-8, 344 S.) trägt. Wie schon im Vorläufer LETTERS OF NOTE (2014) vergrub sich Herausgeber Usher in die Archive und Nachlässe mehr oder weniger bekannter Menschen und Institute und trug so, eins zwei drei, insgesamt 123 Listen zusammen, die von den zehn guten Vorsätzen für den Tag, die Johnny Cash sich notierte, bis zur Einkaufsliste tibetischer Mönche aus dem zehnten Jahrhundert reichen. Gleichermaßen interessant fand Usher die Liste von Schauspielern, mit denen Marilyn Monroe ins Bett wollte, die mehr als 150 Umschreibungen, die Benjamin Franklin fürs Betrunkensein kannte und die Überlebenstipps für Frauen im Musikbusiness  von Rocksängerin Chrissie Hynde. Unsere besondere Aufmerksamkeit galt den 19 Prophezeiungen, die Robert A. Heinlein 1953 über die Zukunft der Menschheit absonderte und dem umfangreichen Zentrum des Buches: 222 „unheimliche Ideen“, die H. P. Lovecraft zwischen 1919 und 1935 in sein (durch Alan Moores PROVIDENCE-Comic erst kürzlich prominent vorgeführtes) „Kollektaneenbuch“ eintrug. So wird aus 1. LISTS 2. OF 3. NOTE ein unerschöpflicher Quell der Weisheit, der Wahrheit und des (Listen-)Wahnsinns.

Nicht ganz so „groß“ im Format und im Anspruch, aber genauso liebevoll „gemacht“, ist die Neuausgabe von Antoine de Saint-Exupérys Jahrhundertbuch DER KLEINE PRINZ (Insel, ISBN 978-3-458-20017-8, 107 S.), das in der Reihe der Insel-Bücherei in der Übersetzung von Peter Sloterdijk und illustriert von Nicolas Mahler erschienen ist. Im Vergleich zu der über sechzig Jahre alten Version des Rauch Verlags wirkt die Sprache deutlich zeitgemäßer und die Bilder von Mahler wirken sehr eigenständig, ohne die Vorlagen des Originals ganz „über Bord zu werfen“. Sicher mehr als einen Blick wert und eine echte Alternative zur bisherigen Fassung.

Und gleich noch ein All-Age-Teil: Der Comic-Künstler Craig Thompson, bekannt geworden durch BLANKETS (2003) und HABIBI (2011), hat einen farbenfrohen, humorvollen und großartige Wimmelbilder enthaltenden Science-Fiction-Comic vorgelegt, der unter dem Titel WELTRAUMKRÜMEL (ISBN 978-3-95640-052-0) bei Reprodukt erschienen ist. Das 300 Seiten starke Buch erzählt davon, dass auch Superhelden-Väter hin und wieder die Unterstützung ihrer Töchter benötigen – also auch noch ein echtes „Trostbuch“ für den Nachwuchs.

Etwas länger auf dem Stapel der ungelesenen Meisterwerke verbrachte Kevin Barrys düster-melancholische Zukunfts-Historie DUNKLE STADT BOHANE (Tropen, ISBN 978-3-608-50145-2, 300 S.), in welcher der irische Autor über den unvermeidlichen Generationen- und Machtwechsel innerhalb der kriminellen Elite einer zeitlosen Stadt am Rande der Welt schreibt. Dabei ist es vor allem die von Bernhard Robben hervorragend übersetzte Sprache in der Barry seine Protagonisten über ihre Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit sinnieren lässt, die diesen Roman auszeichnet. Natürlich denkt man sofort an James Joyce und andere Sprachkünstler, aber solche Vergleiche haben weder Kevin Barry noch BOHANE nötig.

Noch etwas länger hat es gedauert, bis 2014 endlich DAS HAUS DER VERGESSENEN BÜCHER (Atlantik, ISBN 978-3-455-60012-4, 255 S.) von Renate Orth-Guttmann ins Deutsche übersetzt wurde. Der amerikanische Autor Christopher Morley (1890–1957) hat seinen Roman um ein New Yorker Antiquariat in dem es „spukt“ bereits 1919 in den USA veröffentlicht, doch sein menschenfreundlicher Humor, seine Liebe zu Büchern und zu den Menschen, die mit ihnen als Leser, Händler und Sammler umgehen, lassen das Werk immer noch sehr lebendig und frisch wirken. Aufgrund dieser Qualitäten und der damit einhergehenden Mund-zu-Mund-Propaganda erschien dann in diesem Jahr auch eine Neuausgabe des Vorläufer-Romans EINE BUCHHANDLUNG AUF REISEN (Atlantik, ISBN 978-3-455-60023-0), der bereits 1951 seinen ersten, leider folgenlos gebliebenen, Auftritt in Deutschland hatte. Darin zieht der Antiquar vor seiner „Häuslichwerdung“ mit Pferd und Bücherwagen übers Land und erlebt so manch skurriles Abenteuer beim Erwerb und Verkauf alter Bücher. Zwei Werke, die der „Entschleunigung“ mehr als förderlich sind – zwei gute Bücher.

Wenn wir schon bei Zeitreisen, schönen alten Büchern und Musestunden in gesunder Landluft sind, darf an dieser Stelle wohl auch auf ein Werk hingewiesen werden, welches seinesgleichen in diesem Jahr nicht hatte: Das Buch erschien erstmals 1890 unter dem Titel  NEWS FROM NOWHERE, sein Verfasser war der Künstler, Designer, Sozialist und Autor William Morris. Nachdem die Erstausgabe als preiswerte Broschüre in großer Zahl unters Lesevolk gebracht war, gönnte sich der Besitzer der Kelmscott Press eine auf 300 Exemplare limitierte Prachtausgabe, die zu den wohl schönsten Büchern gehört, die jemals hergestellt wurden. Die Folio Society, die neben den sowieso schon hervorragend gemachten „Normalausgaben“ ihrer Bücher auch noch nur für Mitglieder erhältliche, limitierte Vorzugsausgaben einzelner Titel im Programm hat, lieferte im Dezember eine allgemein zugängliche Faksimile-Ausgabe von NEWS FROM NOWHERE aus, die qualitativ jedoch die Anmutung einer Vorzugsausgabe besitzt. Das beginnt beim Papier und der Fadenheftung, geht über in den zweifarbigen Druck und die perfekte Widergabe des Inhalts und endet noch lange nicht beim dunkelgrünen Ganzledereinband, der reichen Goldprägung und dem dreiseitigen Goldschnitt. Wer einmal in seinem Leben ein wirklich perfektes Buch in seiner Sammlung haben möchte, kann dies nun für einen erstaunlich günstigen Preis verwirklichen – Lieferung allerdings nur solange der Vorrat reicht.



London, Folio Society, 2015.

Allen Leserinnen und Lesern dieses Newsletters wünscht die Redaktion

ein frohes Fest

und

einen guten Start ins neue Jahr 2016.



Herrmann Ibendorf



ZITAT

„Du bist jederzeit ein Genie“

Jack Kerouac – „Glaubensbekenntnis“; in: 1. LISTS 2. OF 3. NOTE (S.146)



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