TEMPORAMORES - Newsletter # 271 - 30.10.2017




KURZMELDUNGEN

Ein solcher Monumental-Foliant wird sonst nur den allergrößten Literaturklassikern gewidmet: Die von dem amerikanischen Rechtsanwalt und Literaturwissenschaftler Leslie S. Klinger herausgegebene „große kommentierte Ausgabe“ von H. P. LOVECRAFT – DAS WERK (Fischer TOR, ISBN 978-3-596-03708-7) übertrifft alles, was es hierzulande bisher  an Werk-, Auswahl-, Sammel- und Einzelbänden von Howard Phillips Lovecraft (1890 – 1937) gegeben hat. Zwar sind (entgegen den Erwartungen, die der Titel vielleicht weckt) „nur“ 22 Erzählungen Lovecrafts enthalten, doch bilden diese den Kern des von Klinger so bezeichneten „Arkham-Zirkels“ und damit das Gravitationszentrum des Gesamtwerks. Das Besondere und Einzigartige dieses trotzdem über 900 Seiten starken Buches im Riesenformat von 26 x 23 cm sind die Kommentare und Anmerkungen Klingers zu den Geschichten. Minutiös, detailverliebt und treffsicher annotiert Klinger, was sich einer Erklärung anbietet: Erläuterungen altertümlicher und seltener Wörter (die HPL gerne benutzt), Parallelstellen in Geschichtstexten und Quellensuche im umfangreichen Briefwechsel, biografische Hintergründe, Zeitbezüge, Anknüpfungspunkte an literarische und philosophische Vorbilder usw. Um seine Anmerkungen zu belegen, verwendet Klinger auch eine Vielzahl an Karten, Fotos, Illustrationen, darunter auch Faksimiles aus Lovecrafts Manuskripten, Briefen und Notizbüchern. Um die notwendige Übersichtlichkeit zu erhalten, sind die Kommentare in rot in einer zweiten Spalte neben den Haupttext gesetzt. Da die Bildbeigaben jedoch oftmals spaltenübergreifende Größe besitzen, haben viele Seiten die Anmutung eines Kunstwerks, was den optischen Reiz des Buches nochmals deutlich steigert. Insgesamt acht Anhänge runden das positive Gesamtbild ab, darunter ein von Lovecraft selbst verfasster „Stammbaum der Älteren Rassen“, das Verzeichnis des Lehrkörpers der Miskatonik Universität, bibliografische Auflistungen von Lovecrafts Werken und seinen Überarbeitungen für andere Autoren. Und ganz speziell für die deutsche Ausgabe haben die beiden Übersetzer Andreas Fliedner und Alexander Pechmann noch eine kurze Abhandlung über „Lovecraft im deutschen Sprachraum“ verfasst. H. P. LOVECRAFT – DAS WERK ist ab sofort der unverzichtbare Grundstein einer jeden Lovecraft-Sammlung!

Fast ebenso spektakulär ist die zweibändige Biografie H. P. LOVECRAFT – LEBEN UND WERK (Golkonda, ISBN 978-3-944720-51-7, 734 Seiten) von S. T. Joshi, deren erster Band (ebenfalls von Andreas Fliedner übersetzt) soeben erschienen ist. Joshi, der weltweit führende Fachmann, wenn es um den amerikanischen Sonderling aus Providence geht, hat dieses Werk erstmals 1996 (in gekürzter Form) veröffentlicht, bevor er 2010 dann seine überarbeitet, verbesserte und ungekürzte 1500 Seiten-Fassung herausbrachte. Der erste Band reicht von 1890 bis 1924 und nimmt vor allem die Wurzeln Lovecrafts und seine frühen Schreibversuche unter die Lupe. Das Buch, obwohl nicht illustriert, ist optisch und haptisch ein Genuss: Das Layout, das Susanne Beneš (aka „benswerk“) für Schutzumschlag und Bucheinband maßgeschneidert hat, ist ebenso „stimmig“ wie der von Hardy Kettlitz erstellte Satz lesbar – und die zwei goldgelben Lesebändchen machen die Sache einfach wunderschön rund. Wie fragt Michael Siefener in seiner Vorbemerkung in Bezug auf Lovecrafts Bedeutung als Autor phantastischer Literatur so schön provokativ: „… braucht man deshalb gleich eine zweibändige Biografie über ihn?“ Seiner umgehend erfolgenden Antwort ist unbedingt beizupflichten: „ja.“

Eines der schönsten Bücher, das ich seit langem in die Hand bekommen habe, ist die von Reinhard Kleist mit vielen Vignetten und ganzseitigen Schwarzweiß-Bildern illustrierte Neuausgabe des 1962 erstmals veröffentlichten Ray Bradbury-Gruselklassikers DAS BÖSE KOMMT AUF LEISEN SOHLEN (ISBN 978-3-8489-2098-3, 350 Seiten), der in der Übersetzung von Norbert Wölfl soeben im Hamburger Aladin Verlag erschienen ist. Als eines Nachts ein unheimlicher Wanderzirkus in die amerikanische Kleinstadt Greenhorn kommt, erwartet die beiden Freunde Jim und Will das Abenteuer ihres jungen Lebens. Nicht nur die Schausteller verhalten sich merkwürdig, auch Mister Dark, der Direktor, hütet ein tödliches Geheimnis. Dass Greenhorn am Ende noch einmal davonkommt, ist einzig dem Mut von Will und Jim zu verdanken – aber das Böse fordert von ihnen einen schrecklichen Tribut … Nicht nur zu Halloween ein totsicherer Lese-Tipp!

Pünktlich wie immer bringt die Ausgabe 68 der phantastisch! (Atlantis) den 17. Jahrgang zu einem großartigen Abschluss. Das Herzstück ist der 2. Teil des H. G. Wells-Artikels von Horst Illmer, von dem auch die Würdigung der Friedenspreisträgerin Margaret Atwood ist. Andere Glanzpunkte setzen die Interviews mit Wesley Chu, Rachel Kahn und J. P. Black sowie Artikel über neue Bücher (Uwe Anton über ein neues SF-Lexikon) und alte Bräuche (Achim Schnurrer über Halloween). Olaf Brill tritt gleich dreimal an: Er ergänzt den Wells-Teil mit einer Betrachtung über alte und neue Comic-Adaptionen, schaut sich Luc Besons „Valerian“ an und ist als Autor für die 28. Folge des exklusiven phantastisch!-Comics „Ein seltsamer Tag“ (Bilder von Michael Vogt) verantwortlich. 80 Seiten Informationen rund um das tollste Genre der Welt – weiter so!

Wie schon mehrfach an dieser Stelle erwähnt, hat H. G. Wells derzeit mal wieder Hochkonjunktur. Außer den Nachrucken der „üblichen Verdächtigen“ (DIE ZEITMASCHINE, KRIEG DER WELTEN) gibt es glücklicherweise auch einige deutsche Erstveröffentlichungen zu melden. So ist zum Beispiel in der Edition Phantasia TOMMYS ABENTEUER (ISBN 978-3-947122-01-1, Pappband im Schuber) erschienen, das einzige Bilderbuch, das Wells geschrieben und gezeichnet hat. Der EP-Verleger Joachim Körber hat das Werk übersetzt und das Layout gestaltet (die 50 Seiten sind auf hochwertigem Kunstdruckpapier gedruckt, die Bindung erfolgte nach klassischem japanischem Vorbild als Blockbuch), von Horst Illmer stammt das Nachwort. Wer H. G. Wells einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen will, sollte hier zugreifen.



ZITATE

Was ich mit der Zusammenstellung dieses Buches bezwecke, ist im Grunde einfach: Ich möchte das Vergnügen, Lovecraft zu lesen, mit einer größeren Leserschaft teilen als der, die er bisher hatte.“

Leslie S. Klinger – „Zu dieser Ausgabe“, in: H. P. LOVECRAFT – DAS WERK. (S. 68)


„Doch wenn Lovecraft dachte, dass 1924 ein hartes Jahr für ihn gewesen sei, dann nur, weil er noch nicht wusste, was 1925 auf ihn zukommen sollte.“

S. T. Joshi – Cliffhanger/letzter Satz in: H. P. LOVECRAFT – LEBEN UND WERK (1)


„Ja, ich kann tatsächlich aufrichtig sagen, dass ich wahrscheinlich das kürzeste und hässlichste Unterwäschemodel der Welt gewesen bin.“

Wesley Chu im Interview mit Dirk Berger, phantastisch! Nr. 68 (S. 54)


„Er spielte mit mehr Herzlichkeit und Anmut als fast alle anderen Erwachsenen oder Kinder, die ich jemals getroffen habe.“

Gladys B. Stern, zitiert in: H. G. Wells TOMMYS ABENTEUER (S. 43)



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