TEMPORAMORES - Newsletter # 273 & 274 - 20.12.2017




KURZMELDUNGEN

So. Fast geschafft. Das Jahr neigt sich dem Ende zu, die Adventszeit ist diesmal so kurz wie nur möglich, Weihnachten steht vor der Tür – und hier liegt ein Riesenstapel mit Büchern, die alle noch empfohlen sein wollen. Deshalb also jetzt der ultimative Geschenke-für-ALLE!-die-noch-Geschenke-in-letzter-Minute-brauchen-Newsletter:

Eine Leseempfehlung aus dem Radio, die mich sofort zum Kauf des Buches bewegt, das kommt nur alle Heilige Zeiten einmal vor. Umso dankbarer bin ich dem Zufall, dass ich Ulla Müllers Besprechung von Anthony Doerrs Novelle MEMORY WALL (C. H. Beck, ISBN 978-3-406-68961-1, 135 Seiten, 14,95 Euro, Hardcover), die bereits 2016 erschienen ist, gehört habe. Der Inhalt dieses schmalen Bändchens hat es in sich: Es geht ums Älterwerden, um die damit einhergehenden Demenzerscheinungen, um Verlust, um Rassenfragen, um skrupellose Sammler, um unerwartete Menschlichkeit in hoffnungslosen Situationen – und darum, wie man sein Leben weiterlebt, auch wenn das Ende absehbar ist. Die Geschichte spielt in einer nahen Zukunft in einem Vorort von Kapstadt. Dort lebt die vermögende, aber leider demente, Witwe Alma, liebevoll umsorgt von ihrem Angestellten Pheko, der sie mehrmals im Monat zu einem Arzt fährt, der aus dem „interzellulären Raum“ ihres Körpers verlorengegangene Erinnerungen gewinnt und auf Kassetten speichert. Diese Kassetten kann Alma dann zuhause ansehen und so ihre Trauer um den Verlust ihres Mannes ein wenig dämpfen. Aber in ihren Gedächtnis-Aufzeichnungen gibt es auch eine Kassette, für die sich zwielichtige Sammler interessieren. Deshalb erhält Alma seit einigen Wochen allnächtlich Besuch von zwei Einbrechern … Es ist jedoch nicht diese zwischen Science Fiction und Krimi angesiedelte Handlung, die MEMORY WALL zu einem so beeindruckenden Werk macht, sondern die, von Werner Löcher-Lawrence hervorragend übersetzte, stilistische Brillanz mit der Doerr seine Protagonisten zum Leben erweckt. Die oftmals nur mit wenigen Zeilen charakterisierten Figuren stehen trotz ihrer teilweise abscheulichen Taten in all ihrer fragilen Menschlichkeit vor dem Leserauge und vermögen es, uns zu ergreifen. Auf seine Art womöglich ein Meisterwerk.

Ein Jugendbuch von Neil Gaiman mit dem Titel DER LÄCHELNDE ODD UND DIE REISE NACH ASGARD, das vor einigen Jahren schon einmal auf Deutsch bei Arena erschienen ist, damals allerdings mit Illustrationen von Brett Helquist, liegt jetzt neu mit den unvergleichlich viel schöneren Bildern von Chris Riddell vor (Arena, ISBN 978-3-401-60362-9, 125 Seiten, 15,00 Euro, Hardcover). Die Übersetzung von Andreas Steinhöfel wurde beibehalten, was wohl den äußerst günstigen Preis für dieses optische und haptische Kunstwerk erklärt. Die Geschichte des jungen Außenseiters Odd, dem es gelingt, den Frostriesen zum Rückzug zu bewegen und damit dem Frühling den Weg zu bereiten, ist für sich genommen schon hohe Erzählkunst, aber die schwarz-weißen Illustrationen von Riddell (mit Silber als Sonderfarbe) machen das wirklich Besondere dieses Buches aus. Auf seine Art womöglich ein Meisterwerk.

Es gibt ja nicht gerade viel, das ich in meinen fünfzig Jahren als SF-Sammler noch nicht gesehen bzw. in Händen gehalten habe, aber DIE WELT VON MORGEN gehört zu diesem Wenigen. Natürlich meine ich das nicht in übertragenem, sondern in ganz wörtlichem Sinn, denn es gab tatsächlich eine „Hauszeitschrift des Gebrüder Weiß Verlags für die Freunde technischer Zukunftsromane“ die den Titel DIE WELT VON MORGEN trug und zwischen 1955 und 1960 in sechs großformatigen Heften erschien. Diesen untergegangenen, mythischen und verloren geglaubten Werbemittel-Schatz hat jetzt Dieter von Reeken gehoben und als reprografischen Nachdruck in seiner DvR-Buchreihe (ISBN 978-3-948507-16-3, 100 Seiten, 17,50 Euro, kartoniert) veröffentlicht. Die in Jahresabstand erschienen Einzelhefte stellen natürlich Bücher und Taschenbücher aus dem utopisch-phantastischem Verlagsprogramm vor, listen bereits Erschienenes auf und verweisen auf Titel aus anderen vom Verlag bedienten Genres. Aber es finden sich auch Autorenporträts (Hans Dominik, Robert A. Heinlein, Jean-Gaston Vandel), Buchbesprechungen (über UTOPIA von Thomas Morus) und Essays (u. a. von Arthur C. Clarke und Paul A. Müller) auf diesen Seiten, ebenso Artikel über die damals zeitgenössisch miterlebten dramatischen Ereignisse in der Entwicklung der Weltraumfahrt (Sputnik-Schock) oder etwa die Gründung des Science Fiction Club Deutschland (SFCD). Schon allein der Nachdruck dieses ganz frühen Science-Fiction-Magazins wäre ein herausragender Verdienst des Verlags, aber von Reeken lässt es sich natürlich nicht nehmen, eine Bibliografie der im Gebrüder Weiß erschienenen Titel („Romane aus der Welt von morgen“ und „Utopische Taschenbücher“) inklusive der farbigen Abbildung aller Schutzumschläge und Titelbilder beizufügen. Außerdem würdigt er den Künstler Bernhard Borchert (1910–1971), der für die meisten Einbandbilder der Bücher und für die vielen Schwarzweiß-Illustrationen der Magazine verantwortlich war. Unter den vielen lobenswerten Projekten des DvR-Verlags gehört DIE WELT VON MORGEN zu den beachtlichsten und wichtigsten.

Traumstädte und fremde Planeten, die ein Eigenleben zu haben scheinen, sind eigentlich klassische Themen der Science Fiction. Genre-Klassiker, die einem dazu einfallen, sind unter anderem DIE ANDERE SEITE von Alfred Kubin und SOLARIS von Stanislaw Lem. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass der 1983 in Berlin geborene Germanist und Schriftsteller Sebastian Guhr bei seinem Erstlingsroman DIE VERBESSERUNG UNSERER TRÄUME (Wien, Luftschacht, 195 Seiten, ISBN 978-3903081-14-7, 20,00 Euro, Hardcover) an solche Vorläufer dachte. Seine Sozialisation fand wohl mehr mit den MATRIX-Filmen und den Büchern von Samuel R. Delany, Reinhard Jirgl oder Leif Randt statt. Im 28. Jahrhundert hat die Menschheit einige Planeten besiedelt, auch wenn dort die Lebensbedingungen nicht unbedingt optimal sind, und dort Reißbrett-Städte erbaut, die alle Bedürfnisse der Siedler erfüllen sollen. Doch wie bei utopischen Idealen üblich, sieht die Wirklichkeit immer anders aus. Die Oneiropole auf dem viele Lichtjahre von der Erde entfernten Planeten Rheit existiert seit zwei Jahrhunderten und befindet sich in einer Phase des steilen Niedergangs. Die Bewohner, gefangen in einer technisierten Traumwelt, erkennen dies fast zu spät. Kurz vor dem Zusammenbruch findet sich eine kleine Gruppe um den Wissenschaftler Aspi und seine Familie, die versucht, das Ruder noch herumzureißen. Aber der Untergang der Stadt scheint unvermeidlich …
Bei der Suche nach neuen Erzählern, die sich mit ungewöhnlichen Themen und frischen Ideen in die phantastische Literatur einbringen, bin ich über diesen Titel gestolpert. Das relativ schmale Buch bietet eine intensive und komplex-fordernde Lektüre und gehört zu den interessantesten Neuentdeckungen des Jahres 2017. Auf seine Art womöglich ein Meisterwerk.

Der englische Comic-Künstler Bryan Talbot bringt seine seit 2009 laufende Graphic-Novel-Serie GRANDVILLE im fünften (und vorläufig wohl letzten) Band, GRANDVILLE FORCE MAJEURE (Jonathan Cape, ISBN 978-1-91070-224-8, 170 Seiten, Hardcover, ca. 21,50 Euro), zu einem fulminantem Abschluss. Durch finstere Intrigen gerät Detective-Inspector LeBrock von Scotland Yard in die Schusslinie sowohl seiner eigenen Behörde wie auch jeder Menge Verbrecher, die ihr Mütchen an ihm kühlen wollen. Trotz der Unterstützung durch seinen Kollegen Sergeant Ratzi und seiner Geliebten Billie gelingt es LeBrock jedoch nicht, den finsteren Plänen von Tiberius Koenig, dem genialen Gangsterboss von Grandville, Entscheidendes entgegen zu setzen. Das Schicksal nimmt unerbittlich seinen Lauf ... Die von Talbot sowohl geschriebene wie gezeichnete Geschichte um den unbestechlichen Polizei-Dachs LeBrock erreicht in GRANDVILLE FORCE MAJEURE einen neuen Höhepunkt und bildet einen würdigen Abschluss dieser Reihe. Wundervoller Gimmick von Verlag und Künstler ist ein „Anti-Spoiler-Seal“ in Form einer schwarzen Kunststofffolie, die verhindert, dass man im Laden mal schnell die letzten zwanzig Seiten aufblättert, um zu sehen, wie dieser super spannende „Scienctific-Romance-Thriller“ ausgeht. In Ruhe zuhause gelesen macht das ja auch viel mehr Spaß.

„Mit dem vorliegenden Comic hat sich der Autor einen alten Traum erfüllt, indem er den Text und das Szenario für die Graphic-Novel-Fassung von »Die Stadt der Träumenden Bücher« selbst gestaltete.“ (Impressum) Ja, ich gebe es zu, ich war skeptisch. Immerhin gehört der Roman DIE STADT DER TRÄUMENDEN BÜCHER von Walter Moers seit seinem Erscheinen im Jahr 2004 zu meinen absoluten Lieblingsbüchern. Und jetzt gibt es also DIE STADT DER TRÄUMENDEN BÜCHER (Knaus, ISBN 978-3-8135-0501-6, Hardcover, 25,00 Euro) als zweiteiligen, von Florian Biege gezeichneten, Comic. 110 Seiten Umfang hat der 1. Teil, der erzählt, wie Hildegunst von Mythenmetz die Lindwurmfeste verlässt, nach Buchhaim kommt, in die Katakomben hinabsteigt, dort die Buchlinge trifft und schließlich die Lederne Grotte betritt. Und in dem Moment, in dem ich das vier Seiten große Ausklappbild der Ledernen Grotte entdeckte, war es um mich geschehen. Die Magie der Träumenden Bücher hatte mich wieder eingefangen. Die Graphic Novel ersetzt natürlich nicht die Lektüre der Originalromane – aber bis Herr Moers endlich soweit ist und DAS SCHLOSS DER TRÄUMENDEN BÜCHER (der seit langem angekündigte dritte Teil) seinen extrem hohen Ansprüchen gerecht wird, ist diese graphische Neuinterpretation ein gelungener Zeitvertreib.

Nicht nur AUS NEUGIER UND LEIDENSCHAFT (Berlin Verlag, ISBN 978-3-8270-0666-0, 480 Seiten, Hardcover, 28,00 Euro), sondern vor allem, um auch diese Seite von Margaret Atwood einmal kennen zu lernen, sollte man einmal einen Blick in die in diesem Band enthaltenen „gesammelten Essays“ der soeben mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten Kanadierin wagen. Die fast fünfzig Texte sind zwischen 1970 und 2005 entstanden und reichen von Buchbesprechungen und Nachrufen hin zu Vorworten, Nachworten, Einleitungen und Lobhudeleien, zeigen aber auch das große Spektrum von Atwoods Interessen und Vorlieben und geben Einblicke in ihr Schreiben und Privatleben. Obwohl es Atwood ja meistens vermeidet mit anderen Science-Fiction-Autoren in einen Topf geworfen zu werden, finden sich natürlich Arbeiten, in denen George Orwell, H. G. Wells und Ursula K. Le Guin im Mittelpunkt stehen. Margaret Atwood ist seit jeher eine Autorin, die das Leben und die Literatur mit „Neugier und Leidenschaft“ betrachtet – und dies in ihren klugen Essays auf sehr lesenswerte Weise zu vermitteln vermag. Ein Buch, das man sehr gut „häppchenweise“ zu sich nehmen kann.

Was soll man jetzt dazu sagen? Vielleicht: „Der König ist tot, lang lebe der König“? Es gibt nicht allzu viele Vater-Sohn-Gespanne in der Literatur, andererseits darf man gerade bei Stephen King ja davon ausgehen, dass er gerne Neues ausprobiert und auch mal mit anderen Autoren zusammenarbeitet. So stehen neben Peter Straub, Stewart O’Nan und Richard Chizmar inzwischen auch seine Kinder Joe Hill und – seit neuestem – Owen King auf der Liste der Co-Autoren. Und dann gleich ein solches Monument: SLEEPING BEAUTIES (Heyne, ISBN 978-3-453-27144-9, 28,00 Euro, Hardcover) ist ein immerhin 959 Seiten dicker Brocken von Roman! Die Idee, dass alle Frauen auf der Welt in einer Art Dornröschenschlaf versinken, wirkt nur auf den allerersten Blick wie ein typisch männlicher Wunschtraum. Schon wenn es darum geht, wer die Wäsche wäscht, treten bei vielen Männern ja die ersten Schweißtropfen auf die Stirn – und dann sowas … Die Erwartungshaltung an einen Stephen King-Roman mit solcher Thematik geht in Richtung „das wird sicherlich schön schrecklich werden“. Ob sich der Horror-Faktor bei zwei Kings dann verdoppelt? Lesen und herausfinden!

Inzwischen hat man sich schon fast daran gewöhnt, dass DAS SCIENCE FICTION JAHR nicht mehr bei Heyne, sondern bei Golkonda erscheint. Gerade noch rechtzeitig vor dem Verfallsdatum ist jetzt die Ausgabe 2017 (ISBN 978-3-946503-10-1, 500 Seiten, 29,90 Euro, Klappenbroschur) in die Buchhandlungen gekommen, diesmal herausgegeben vom neuen Verlagsleiter Michael Görden. Die üblichen Sparten mit Buch-, Film- und Comic-Besprechungen, die Bibliografie von Christian Pree, die Listen mit Preisen und Todesfällen erreichen das gewohnt hohe Niveau. Die Spezial-Features in dieser, inzwischen schon 32. Ausgabe von DAS SCIENCE FICTION JAHR sind Interviews mit Kai Meyer und Sylvain Neuvel, sowie Artikel von Wolfgang Neuhaus (über die Strugatzki-Brüder), Lars Schmeink (über den Weltuntergang im Film), Fritz Heidorn (über NICK DER WELTRAUMFAHRER), G. M. Knauer (über mystische Ansätze im Werk von H. P. Lovecraft, H. Hesse, S. Lem und F. Herbert) und Jewgeni Lukin (über die Wahrnehmung der Phantastik in Russland). 500 Seiten kompakte, komplexe Information für die echten Hardcore-Datensammler.

Als 2009 endlich die deutsche Ausgabe von David Foster Wallace’ Jahrhundertbuch INFINITE JEST, übersetzt von Ulrich Blumenbach, unter dem Titel UNENDLICHER SPASS in die Buchhandlungen kam, waren die Kritiker begeistert – und die Leser ob der mehr als 1500 Seiten erst einmal geschockt. Wer sich bisher nicht an diesen als äußerst schwierig zu lesenden und verwirrend konstruierten Roman herantraute, kann ihn sich ab sofort vorlesen lassen. In einer Co-Produktion von WDR, BR2 und DLF inszenierten Andreas Ammer, Andreas Gerth und Acid Pauli das „größte Radiokunstprojekt aller Zeiten“: UNENDLICHER SPASS – UNENDLICHES SPIEL (Hörverlag, ISBN 978-3-8445-2707-0, 10 mp3-CDs, UVP 49,90 Euro), die vollständige Lesung mit über 1400 Sprechern (jeder genau eine Seite, nur Ulrich Blumenbach liest alle 388 Anmerkungen selbst) und einer Gesamtlaufzeit von etwa 80 Stunden. Untermalt wird dieses ebenso spannende wie spektakuläre Experiment von der autonom generierten Musik eines analogen Synthesizers, der sogenannten „Goldenen Maschine“. Ausführliche Erklärungen zum Projekt lassen sich im 60 Seiten starken Booklet nachlesen. Auf seine Art ganz sicher ein Meisterwerk!



ZITAT

It may be some sort of masterpiece.“

Gary K. Wolfe (LOCUS) in seiner Rezension eines Buches von John Crowley



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