So.
Fast geschafft. Das Jahr neigt sich dem Ende zu, die Adventszeit ist diesmal so
kurz wie nur möglich, Weihnachten steht vor der Tür – und hier liegt ein
Riesenstapel mit Büchern, die alle noch empfohlen sein wollen. Deshalb also
jetzt der ultimative Geschenke-für-ALLE!-die-noch-Geschenke-in-letzter-Minute-brauchen-Newsletter:
Eine
Leseempfehlung aus dem Radio, die mich sofort zum Kauf des Buches bewegt, das
kommt nur alle Heilige Zeiten einmal vor. Umso dankbarer bin ich dem Zufall,
dass ich Ulla Müllers Besprechung
von Anthony Doerrs Novelle MEMORY
WALL (C. H. Beck, ISBN 978-3-406-68961-1, 135 Seiten, 14,95 Euro, Hardcover),
die bereits 2016 erschienen ist, gehört habe. Der Inhalt dieses schmalen
Bändchens hat es in sich: Es geht ums Älterwerden, um die damit einhergehenden
Demenzerscheinungen, um Verlust, um Rassenfragen, um skrupellose Sammler, um
unerwartete Menschlichkeit in hoffnungslosen Situationen – und darum, wie man
sein Leben weiterlebt, auch wenn das Ende absehbar ist. Die Geschichte spielt
in einer nahen Zukunft in einem Vorort von Kapstadt. Dort lebt die vermögende,
aber leider demente, Witwe Alma, liebevoll umsorgt von ihrem Angestellten
Pheko, der sie mehrmals im Monat zu einem Arzt fährt, der aus dem
„interzellulären Raum“ ihres Körpers verlorengegangene Erinnerungen gewinnt und
auf Kassetten speichert. Diese Kassetten kann Alma dann zuhause ansehen und so
ihre Trauer um den Verlust ihres Mannes ein wenig dämpfen. Aber in ihren
Gedächtnis-Aufzeichnungen gibt es auch eine Kassette, für die sich zwielichtige
Sammler interessieren. Deshalb erhält Alma seit einigen Wochen allnächtlich
Besuch von zwei Einbrechern … Es ist jedoch nicht diese zwischen Science
Fiction und Krimi angesiedelte Handlung, die MEMORY WALL zu einem so
beeindruckenden Werk macht, sondern die, von Werner Löcher-Lawrence hervorragend übersetzte, stilistische
Brillanz mit der Doerr seine Protagonisten zum Leben erweckt. Die oftmals nur
mit wenigen Zeilen charakterisierten Figuren stehen trotz ihrer teilweise
abscheulichen Taten in all ihrer fragilen Menschlichkeit vor dem Leserauge und
vermögen es, uns zu ergreifen. Auf seine Art womöglich ein Meisterwerk.
Ein
Jugendbuch von Neil Gaiman mit dem
Titel DER LÄCHELNDE ODD UND DIE REISE NACH ASGARD, das vor einigen Jahren schon
einmal auf Deutsch bei Arena erschienen ist, damals allerdings mit
Illustrationen von Brett Helquist,
liegt jetzt neu mit den unvergleichlich viel schöneren Bildern von Chris Riddell vor (Arena, ISBN
978-3-401-60362-9, 125 Seiten, 15,00 Euro, Hardcover). Die Übersetzung von Andreas Steinhöfel wurde beibehalten,
was wohl den äußerst günstigen Preis für dieses optische und haptische Kunstwerk
erklärt. Die Geschichte des jungen Außenseiters Odd, dem es gelingt, den
Frostriesen zum Rückzug zu bewegen und damit dem Frühling den Weg zu bereiten,
ist für sich genommen schon hohe Erzählkunst, aber die schwarz-weißen
Illustrationen von Riddell (mit Silber als Sonderfarbe) machen das wirklich
Besondere dieses Buches aus. Auf seine Art womöglich ein Meisterwerk.
Es
gibt ja nicht gerade viel, das ich in meinen fünfzig Jahren als SF-Sammler noch
nicht gesehen bzw. in Händen gehalten habe, aber DIE WELT VON MORGEN gehört zu
diesem Wenigen. Natürlich meine ich das nicht in übertragenem, sondern in ganz
wörtlichem Sinn, denn es gab tatsächlich eine „Hauszeitschrift des Gebrüder
Weiß Verlags für die Freunde technischer Zukunftsromane“ die den Titel DIE WELT
VON MORGEN trug und zwischen 1955 und 1960 in sechs großformatigen Heften
erschien. Diesen untergegangenen, mythischen und verloren geglaubten
Werbemittel-Schatz hat jetzt Dieter von
Reeken gehoben und als reprografischen Nachdruck in seiner DvR-Buchreihe
(ISBN 978-3-948507-16-3, 100 Seiten, 17,50 Euro, kartoniert) veröffentlicht.
Die in Jahresabstand erschienen Einzelhefte stellen natürlich Bücher und
Taschenbücher aus dem utopisch-phantastischem Verlagsprogramm vor, listen
bereits Erschienenes auf und verweisen auf Titel aus anderen vom Verlag
bedienten Genres. Aber es finden sich auch Autorenporträts (Hans Dominik, Robert A. Heinlein,
Jean-Gaston Vandel), Buchbesprechungen (über UTOPIA von Thomas Morus) und Essays (u. a. von Arthur C. Clarke und Paul A. Müller) auf diesen Seiten,
ebenso Artikel über die damals zeitgenössisch miterlebten dramatischen
Ereignisse in der Entwicklung der Weltraumfahrt (Sputnik-Schock) oder etwa die
Gründung des Science Fiction Club Deutschland (SFCD). Schon allein der
Nachdruck dieses ganz frühen Science-Fiction-Magazins wäre ein herausragender
Verdienst des Verlags, aber von Reeken lässt es sich natürlich nicht nehmen,
eine Bibliografie der im Gebrüder Weiß erschienenen Titel („Romane aus der Welt
von morgen“ und „Utopische Taschenbücher“) inklusive der farbigen Abbildung
aller Schutzumschläge und Titelbilder beizufügen. Außerdem würdigt er den
Künstler Bernhard Borchert
(1910–1971), der für die meisten Einbandbilder der Bücher und für die vielen
Schwarzweiß-Illustrationen der Magazine verantwortlich war. Unter den vielen
lobenswerten Projekten des DvR-Verlags gehört DIE WELT VON MORGEN zu den
beachtlichsten und wichtigsten.
Traumstädte
und fremde Planeten, die ein Eigenleben zu haben scheinen, sind eigentlich
klassische Themen der Science Fiction. Genre-Klassiker, die einem dazu
einfallen, sind unter anderem DIE ANDERE SEITE von Alfred Kubin und SOLARIS von Stanislaw
Lem. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass der 1983 in Berlin geborene
Germanist und Schriftsteller Sebastian
Guhr bei seinem Erstlingsroman DIE VERBESSERUNG UNSERER TRÄUME (Wien,
Luftschacht, 195 Seiten, ISBN 978-3903081-14-7, 20,00 Euro, Hardcover) an
solche Vorläufer dachte. Seine Sozialisation fand wohl mehr mit den
MATRIX-Filmen und den Büchern von Samuel
R. Delany, Reinhard Jirgl oder Leif
Randt statt. Im 28. Jahrhundert hat die Menschheit einige Planeten
besiedelt, auch wenn dort die Lebensbedingungen nicht unbedingt optimal sind,
und dort Reißbrett-Städte erbaut, die alle Bedürfnisse der Siedler erfüllen
sollen. Doch wie bei utopischen Idealen üblich, sieht die Wirklichkeit immer
anders aus. Die Oneiropole auf dem viele Lichtjahre von der Erde entfernten
Planeten Rheit existiert seit zwei Jahrhunderten und befindet sich in einer
Phase des steilen Niedergangs. Die Bewohner, gefangen in einer technisierten
Traumwelt, erkennen dies fast zu spät. Kurz vor dem Zusammenbruch findet sich
eine kleine Gruppe um den Wissenschaftler Aspi und seine Familie, die versucht,
das Ruder noch herumzureißen. Aber der Untergang der Stadt scheint
unvermeidlich …
Bei der Suche nach neuen Erzählern, die sich mit ungewöhnlichen Themen und frischen
Ideen in die phantastische Literatur einbringen, bin ich über diesen Titel
gestolpert. Das relativ schmale Buch bietet eine intensive und
komplex-fordernde Lektüre und gehört zu den interessantesten Neuentdeckungen
des Jahres 2017. Auf seine Art womöglich ein Meisterwerk.
Der
englische Comic-Künstler Bryan Talbot
bringt seine seit 2009 laufende Graphic-Novel-Serie GRANDVILLE im fünften (und
vorläufig wohl letzten) Band, GRANDVILLE FORCE MAJEURE (Jonathan Cape, ISBN
978-1-91070-224-8, 170 Seiten, Hardcover, ca. 21,50 Euro), zu einem fulminantem
Abschluss. Durch finstere Intrigen gerät Detective-Inspector LeBrock von
Scotland Yard in die Schusslinie sowohl seiner eigenen Behörde wie auch jeder
Menge Verbrecher, die ihr Mütchen an ihm kühlen wollen. Trotz der Unterstützung
durch seinen Kollegen Sergeant Ratzi und seiner Geliebten Billie gelingt es
LeBrock jedoch nicht, den finsteren Plänen von Tiberius Koenig, dem genialen
Gangsterboss von Grandville, Entscheidendes entgegen zu setzen. Das Schicksal
nimmt unerbittlich seinen Lauf ... Die von Talbot sowohl geschriebene wie
gezeichnete Geschichte um den unbestechlichen Polizei-Dachs LeBrock erreicht in
GRANDVILLE FORCE MAJEURE einen neuen Höhepunkt und bildet einen würdigen
Abschluss dieser Reihe. Wundervoller Gimmick von Verlag und Künstler ist ein
„Anti-Spoiler-Seal“ in Form einer schwarzen Kunststofffolie, die verhindert,
dass man im Laden mal schnell die letzten zwanzig Seiten aufblättert, um zu
sehen, wie dieser super spannende „Scienctific-Romance-Thriller“ ausgeht. In Ruhe
zuhause gelesen macht das ja auch viel mehr Spaß.
„Mit
dem vorliegenden Comic hat sich der Autor einen alten Traum erfüllt, indem er
den Text und das Szenario für die Graphic-Novel-Fassung von »Die Stadt der
Träumenden Bücher« selbst gestaltete.“ (Impressum) Ja, ich gebe es zu, ich war
skeptisch. Immerhin gehört der Roman DIE STADT DER TRÄUMENDEN BÜCHER von Walter Moers seit seinem Erscheinen im
Jahr 2004 zu meinen absoluten Lieblingsbüchern. Und jetzt gibt es also DIE
STADT DER TRÄUMENDEN BÜCHER (Knaus, ISBN 978-3-8135-0501-6, Hardcover, 25,00
Euro) als zweiteiligen, von Florian
Biege gezeichneten, Comic. 110 Seiten Umfang hat der 1. Teil, der erzählt,
wie Hildegunst von Mythenmetz die Lindwurmfeste verlässt, nach Buchhaim kommt,
in die Katakomben hinabsteigt, dort die Buchlinge trifft und schließlich die
Lederne Grotte betritt. Und in dem Moment, in dem ich das vier Seiten große
Ausklappbild der Ledernen Grotte entdeckte, war es um mich geschehen. Die Magie
der Träumenden Bücher hatte mich wieder eingefangen. Die Graphic Novel ersetzt
natürlich nicht die Lektüre der Originalromane – aber bis Herr Moers endlich
soweit ist und DAS SCHLOSS DER TRÄUMENDEN BÜCHER (der seit langem angekündigte
dritte Teil) seinen extrem hohen Ansprüchen gerecht wird, ist diese graphische
Neuinterpretation ein gelungener Zeitvertreib.
Nicht
nur AUS NEUGIER UND LEIDENSCHAFT (Berlin Verlag, ISBN 978-3-8270-0666-0, 480
Seiten, Hardcover, 28,00 Euro), sondern vor allem, um auch diese Seite von Margaret Atwood einmal kennen zu
lernen, sollte man einmal einen Blick in die in diesem Band enthaltenen
„gesammelten Essays“ der soeben mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
ausgezeichneten Kanadierin wagen. Die fast fünfzig Texte sind zwischen 1970 und
2005 entstanden und reichen von Buchbesprechungen und Nachrufen hin zu
Vorworten, Nachworten, Einleitungen und Lobhudeleien, zeigen aber auch das
große Spektrum von Atwoods Interessen und Vorlieben und geben Einblicke in ihr
Schreiben und Privatleben. Obwohl es Atwood ja meistens vermeidet mit anderen
Science-Fiction-Autoren in einen Topf geworfen zu werden, finden sich natürlich
Arbeiten, in denen George Orwell, H. G.
Wells und Ursula K. Le Guin im
Mittelpunkt stehen. Margaret Atwood ist seit jeher eine Autorin, die das Leben
und die Literatur mit „Neugier und Leidenschaft“ betrachtet – und dies in ihren
klugen Essays auf sehr lesenswerte Weise zu vermitteln vermag. Ein Buch, das
man sehr gut „häppchenweise“ zu sich nehmen kann.
Was
soll man jetzt dazu sagen? Vielleicht: „Der König ist tot, lang lebe der
König“? Es gibt nicht allzu viele Vater-Sohn-Gespanne in der Literatur,
andererseits darf man gerade bei Stephen
King ja davon ausgehen, dass er gerne Neues ausprobiert und auch mal mit
anderen Autoren zusammenarbeitet. So stehen neben Peter Straub, Stewart O’Nan und Richard Chizmar inzwischen auch seine Kinder Joe Hill und – seit neuestem – Owen
King auf der Liste der Co-Autoren. Und dann gleich ein solches Monument:
SLEEPING BEAUTIES (Heyne, ISBN 978-3-453-27144-9, 28,00 Euro, Hardcover) ist
ein immerhin 959 Seiten dicker Brocken von Roman! Die Idee, dass alle Frauen
auf der Welt in einer Art Dornröschenschlaf versinken, wirkt nur auf den
allerersten Blick wie ein typisch männlicher Wunschtraum. Schon wenn es darum
geht, wer die Wäsche wäscht, treten bei vielen Männern ja die ersten
Schweißtropfen auf die Stirn – und dann sowas … Die Erwartungshaltung an einen
Stephen King-Roman mit solcher Thematik geht in Richtung „das wird sicherlich
schön schrecklich werden“. Ob sich der Horror-Faktor bei zwei Kings dann
verdoppelt? Lesen und herausfinden!
Inzwischen
hat man sich schon fast daran gewöhnt, dass DAS SCIENCE FICTION JAHR nicht mehr
bei Heyne, sondern bei Golkonda erscheint. Gerade noch rechtzeitig vor dem
Verfallsdatum ist jetzt die Ausgabe 2017 (ISBN 978-3-946503-10-1, 500 Seiten,
29,90 Euro, Klappenbroschur) in die Buchhandlungen gekommen, diesmal
herausgegeben vom neuen Verlagsleiter Michael
Görden. Die üblichen Sparten mit Buch-, Film- und Comic-Besprechungen, die
Bibliografie von Christian Pree, die
Listen mit Preisen und Todesfällen erreichen das gewohnt hohe Niveau. Die
Spezial-Features in dieser, inzwischen schon 32. Ausgabe von DAS SCIENCE
FICTION JAHR sind Interviews mit Kai
Meyer und Sylvain Neuvel, sowie
Artikel von Wolfgang Neuhaus (über
die Strugatzki-Brüder), Lars Schmeink (über den Weltuntergang
im Film), Fritz Heidorn (über NICK
DER WELTRAUMFAHRER), G. M. Knauer (über
mystische Ansätze im Werk von H. P.
Lovecraft, H. Hesse, S. Lem und F.
Herbert) und Jewgeni Lukin (über
die Wahrnehmung der Phantastik in Russland). 500 Seiten kompakte, komplexe
Information für die echten Hardcore-Datensammler.
Als
2009 endlich die deutsche Ausgabe von David
Foster Wallace’ Jahrhundertbuch INFINITE JEST, übersetzt von Ulrich Blumenbach, unter dem Titel
UNENDLICHER SPASS in die Buchhandlungen kam, waren die Kritiker begeistert –
und die Leser ob der mehr als 1500 Seiten erst einmal geschockt. Wer sich
bisher nicht an diesen als äußerst schwierig zu lesenden und verwirrend
konstruierten Roman herantraute, kann ihn sich ab sofort vorlesen lassen. In
einer Co-Produktion von WDR, BR2 und DLF inszenierten Andreas Ammer, Andreas Gerth und Acid Pauli das „größte Radiokunstprojekt aller Zeiten“: UNENDLICHER
SPASS – UNENDLICHES SPIEL (Hörverlag, ISBN 978-3-8445-2707-0, 10 mp3-CDs, UVP
49,90 Euro), die vollständige Lesung mit über 1400 Sprechern (jeder genau eine
Seite, nur Ulrich Blumenbach liest alle 388 Anmerkungen selbst) und einer
Gesamtlaufzeit von etwa 80 Stunden. Untermalt wird dieses ebenso spannende wie
spektakuläre Experiment von der autonom generierten Musik eines analogen
Synthesizers, der sogenannten „Goldenen Maschine“. Ausführliche Erklärungen zum
Projekt lassen sich im 60 Seiten starken Booklet nachlesen. Auf seine Art ganz
sicher ein Meisterwerk!
„It may be some
sort of masterpiece.“
Gary K. Wolfe (LOCUS) in seiner Rezension eines Buches
von John Crowley