TEMPORAMORES - Newsletter # 327 - 1.10.2020




KURZMELDUNGEN

Gerade zurück vom 15. ELSTERCON in Leipzig – der vermutlich einzigen Veranstaltung dieser Art in diesem Jahr –, sitze ich vor einem Riesen-Bücher-Berg, der danach „ruft“ abgearbeitet zu werden. Wer nicht vor Ort war, hat wirklich was verpasst. Einen guten Eindruck von der Qualität und Vielfalt, die das diesjährige Programm (trotz diverser Ausfälle bei den Ehrengästen) geboten hat, vermittelt das Conbuch FAHRENHEIT 145 – ERDE IM FIEBER, von dem Restbestände, soweit noch vorhanden, beim Veranstalter, dem Freundeskreis Science Fiction Leipzig e. V. (www.fksfl.de), bezogen werden können.

Diesmal rechtzeitig und ohne allzu großen Stress für den Verlag und die Herausgeber Melanie Wylutzki und Hardy Kettlitz erschienen: DAS SCIENCE FICTION JAHR 2020 (Hirnkost, ISBN 978-3-948675-49-3, 600 S., Klappenbroschur). Die gewohnte „volle Dröhnung“ zum abgelaufenen Jahr mit ALLEM was man/frau über Science Fiction wissen wollte/sollte. Das zentrale Thema der siebzehn den Statistikteil begleitenden Essays ist in diesem Jahr „Diversität, Queerness und Gender“ (mit einem kleinen Abstecher in Richtung „Katastrophen“). Ansonsten ist es einfach schön, dass trotz aller Schwierigkeiten in den vergangenen Jahren dieses Aushängeschild der deutschen SF-Kritik wieder im „Regelbetrieb“ läuft.

Das Schreiben von Kurzgeschichten will nicht nur gelernt, sondern auch geübt sein. Da macht es sich so langsam bemerkbar, dass es in den letzten Jahren (und verstärkt in 2020) doch immer mehr Möglichkeiten gerade für deutschsprachige Autoren und Autorinnen gab, diese Kunst auszuüben. Allein im Hirnkost Verlag liegt jetzt mit PANDEMIE (ISBN 978-3-948675-59-2) bereits die zweite Anthologie mit ausschließlich neuen Geschichten vor – und was für ein gigantisches Buch ist das geworden! War schon DER GRÜNE PLANET, ebenfalls von Hans Jürgen Kugler und René Moreau herausgegeben, ein spektakulär gemachtes Buchobjekt, so übertrifft PANDEMIE sowohl an Gewicht wie an Ausstattung fast alles, was in den letzten siebzig Jahren in Deutschland an Science-Fiction-Anthologien erschienen ist. Das fadengeheftet Hardcover ist auf schwerem Hochglanzpapier gedruckt, um nicht nur den über dreißig Stories gerecht zu werden, sondern vor allem den Künstlern (Uli Bendick, Mario Franke, Jan Hoffmann, David Steage und Michael Vogt) und den fast vierzig (!) Grafiken, die aus dem über 460 Seiten umfassenden Sammelband ein echtes Artbook machen. Das alles darf natürlich nicht den Blick verstellen auf die Stories, bei denen es sich oftmals um die besten und engagiertesten Texte der jeweiligen Autor*innen handelt. (Eine Aufzählung würde den Rahmen sprengen, genannt seien beispielhaft Armin Möhle, Werner Zillig, Michael Siefener, Monika Niehaus und Christian Endres.) Wenn wir dem Drecks-Virus sonst schon nur mit Weh und Klage begegnen können, so verdanken wir Corona jetzt wenigstens diese geile Anthologie. Ein MUSS!

Im Rahmen der Reihe „Werke in Einzelausgaben“ von Angela und Karlheinz Steinmüller liegt jetzt der Band 10 mit dem Titel MARSLANDSCHAFTEN (Memoranda, ISBN 978-3-948616-42-7, 290 S., Klappenbroschur) vor. Von den enthaltenen siebzehn „phantastischen Geschichten“ sind immerhin sechs Erzählungen und ein Radio-Hörspiel („Gulasch à la Ganymed“) deutsche Erstveröffentlichungen – und die anderen elf Texte durchaus als Raritäten zu bezeichnen. Extra für diesen Band haben die Autoren noch ein kurzes Vorwort geschrieben; und so langsam nähert sich auch diese Werkausgabe ihrer (vorläufigen) Vollendung.

Natürlich kann man von einem Autor wie Christopher Paolini, der viele tausend Seiten mit der Geschichte eines Jungen und seines Drachen gefüllt hat, nicht erwarten, dass er einen „kurzen“ Science-Fiction-Roman schreibt. Also sind zumindest die 960 Seiten Umfang von INFINITUM – DIE EWIGKEIT DER STERNE (Knaur, ISBN 978-3-426-22736-7) keine Überraschung. Ganz anders sieht es da schon damit aus, dass der Roman wohl als Einzelband konzipiert ist – und natürlich auch, dass Paolini das ihm eigentlich „fremde“ Genre der Space Opera bedient. Obwohl, „große Oper“ war sein ERAGON-Zyklus ja auch. In INFINITUM, dessen Originaltitel TO SLEEP IN A SEA OF STARS den Verlagsverantwortlichen wohl zu viel(?) verraten hätte, erzählt Paolini die Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau namens Kira, die bei der Erforschung eines neuentdeckten Planeten auf ein Alien-Artefakt stößt. Und das, nachdem die Menschheit jahrhundertelang in den Kosmos vorgestoßen ist, ohne je anderes Leben zu finden. Damit ist das exotische Umfeld abgesteckt, in dem die nachfolgenden, dramatischen Ereignisse von unserer Heldin und ihren Freunden alles abfordern, was eine spannende Geschichte ausmacht.  Das aufwändig mit Illustrationen und Lesebändchen gestaltete Hardcover enthält nicht nur Kartenmaterial und ein Glossar, sondern auch ein mehrseitiges Nachwort des Autors, in dem er erzählt, warum er fast zehn Jahre für die Niederschrift dieses Buches benötigte. Und er legt ein paar „Brotkrumen“ aus, die Lust auf einen nochmaligen Lesedurchgang machen.

Wer das Glück hatte, Harry Harrison (1925–2012) einmal auf einer Convention zu begeg­nen, und die Chancen standen gut, der lernte einen klugen, humorvollen, sprachgewanden und sehr eigenwilligen Charakter kennen, der stets einen bleibenden Eindruck hinterließ. Allen diesen menschlichen Besonderheiten gerecht wird der neueste Band der Reihe SF Personality (SFP 28, ISBN 978-3-948616-40-3), den Hardy Kettlitz und Christian Hoffmann soeben unter dem Titel HARRY HARRISON – WELTENBUMMLER UND WITZBOLD im Memoranda Verlag veröffentlichten. Neben Bibliografie, Biografie und Werkbesprechung enthält der Band auf seinen 300 Seiten auch noch ein bisher unveröffentlichtes Interview, das Arno Behrend 1999 mit Harrison führte, sowie einen Essay von John Clute. Ein herzerwärmendes Erinnerungsbuch.

Die in den Jahren 2013 bis 2016 bei Piper veröffentlichten und inzwischen vergriffenen vier Bücher des ATHANOR-Zyklus von David Falk werden seit dem Sommer 2020 im Atlantis Verlag neu aufgelegt. Versehen mit einer neuen Einleitung des Autors und einigen Extras in den Anhängen liegt bereits der erste Band DER LETZTE KRIEGER (ISBN 978-3-86402-722-2, 570 S.) in einem massiven, von Timo Kümmel gestalteten und illustrierten Hardcover vor. Geplant ist, dass die Reihe bis Ende 2021 komplettiert wird: Eine echte Zierde des Bücherregals.

Ganz großes Kino bietet die inzwischen vierte bebilderte „alternative Weltgeschichte der Mäuse-Erfindungen“ von Torben Kuhlmann, die unter dem Titel EINSTEIN (ISBN 978-3-314-10529-6, 128 S.) im NordSüd Verlag erschienen ist. Diesmal können wir „die fantastische Reise einer Maus durch Raum und Zeit“ mitverfolgen – und erneut zeigt sich, dass die uns Menschen bisher geläufige Geschichtsschreibung durchaus einige „Ergänzungen“ aus dem Blickwinkel der kleinen Nager verträgt. Nach LINDBERGH, ARMSTRONG und EDISON wendet sich Kuhlmann in EINSTEIN erstmals der „echten“ Science Fiction zu und lässt seine vierpfotigen Helden weit über das Menschen bisher Mögliche hinausgreifen und Dinge erfinden, zu denen Alberte Einstein zwar die Grundlagen schuf, aber die Menschheit noch nicht reif ist …



ZITAT

„Es war nur eine grobe Idee, eine Skizze. Aber von Anfang an wusste ich immer, wie die Geschichte beginnen sollte […] und wie sie endet […]. Der schwierige Teil bestand darin, sich alles dazwischen auszudenken.

Christopher Paolini; „Nachwort“ in: INFINITUM (S. 954)



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