Gerade zurück vom 15. ELSTERCON in Leipzig
– der vermutlich einzigen Veranstaltung dieser Art in diesem Jahr –, sitze ich
vor einem Riesen-Bücher-Berg, der danach „ruft“ abgearbeitet zu werden. Wer
nicht vor Ort war, hat wirklich was verpasst. Einen guten Eindruck von der
Qualität und Vielfalt, die das diesjährige Programm (trotz diverser Ausfälle
bei den Ehrengästen) geboten hat, vermittelt das Conbuch FAHRENHEIT 145 – ERDE
IM FIEBER, von dem Restbestände, soweit noch vorhanden, beim Veranstalter, dem
Freundeskreis Science Fiction Leipzig e. V. (www.fksfl.de),
bezogen werden können.
Diesmal rechtzeitig und ohne allzu großen
Stress für den Verlag und die Herausgeber Melanie
Wylutzki und Hardy Kettlitz
erschienen: DAS SCIENCE FICTION JAHR 2020 (Hirnkost, ISBN 978-3-948675-49-3,
600 S., Klappenbroschur). Die gewohnte „volle Dröhnung“ zum abgelaufenen Jahr
mit ALLEM was man/frau über Science Fiction wissen wollte/sollte. Das zentrale
Thema der siebzehn den Statistikteil begleitenden Essays ist in diesem Jahr
„Diversität, Queerness und Gender“ (mit einem kleinen Abstecher in Richtung
„Katastrophen“). Ansonsten ist es einfach schön, dass trotz aller
Schwierigkeiten in den vergangenen Jahren dieses Aushängeschild der deutschen
SF-Kritik wieder im „Regelbetrieb“ läuft.
Das Schreiben von Kurzgeschichten will nicht
nur gelernt, sondern auch geübt sein. Da macht es sich so langsam bemerkbar,
dass es in den letzten Jahren (und verstärkt in 2020) doch immer mehr
Möglichkeiten gerade für deutschsprachige Autoren und Autorinnen gab, diese
Kunst auszuüben. Allein im Hirnkost Verlag liegt jetzt mit PANDEMIE (ISBN
978-3-948675-59-2) bereits die zweite Anthologie mit ausschließlich neuen
Geschichten vor – und was für ein gigantisches Buch ist das geworden! War schon
DER GRÜNE PLANET, ebenfalls von Hans
Jürgen Kugler und René Moreau
herausgegeben, ein spektakulär gemachtes Buchobjekt, so übertrifft PANDEMIE
sowohl an Gewicht wie an Ausstattung fast alles, was in den letzten siebzig
Jahren in Deutschland an Science-Fiction-Anthologien erschienen ist. Das
fadengeheftet Hardcover ist auf schwerem Hochglanzpapier gedruckt, um nicht nur
den über dreißig Stories gerecht zu werden, sondern vor allem den Künstlern (Uli Bendick, Mario Franke, Jan Hoffmann,
David Steage und Michael Vogt)
und den fast vierzig (!) Grafiken, die aus dem über 460 Seiten umfassenden
Sammelband ein echtes Artbook machen. Das alles darf natürlich nicht den Blick
verstellen auf die Stories, bei denen es sich oftmals um die besten und
engagiertesten Texte der jeweiligen Autor*innen handelt. (Eine Aufzählung würde
den Rahmen sprengen, genannt seien beispielhaft Armin Möhle, Werner Zillig, Michael Siefener, Monika Niehaus und Christian Endres.) Wenn wir dem
Drecks-Virus sonst schon nur mit Weh und Klage begegnen können, so verdanken
wir Corona jetzt wenigstens diese geile Anthologie. Ein MUSS!
Im Rahmen der Reihe „Werke in
Einzelausgaben“ von Angela und Karlheinz Steinmüller liegt jetzt der
Band 10 mit dem Titel MARSLANDSCHAFTEN (Memoranda, ISBN 978-3-948616-42-7, 290
S., Klappenbroschur) vor. Von den enthaltenen siebzehn „phantastischen
Geschichten“ sind immerhin sechs Erzählungen und ein Radio-Hörspiel („Gulasch à
la Ganymed“) deutsche Erstveröffentlichungen – und die anderen elf Texte
durchaus als Raritäten zu bezeichnen. Extra für diesen Band haben die Autoren
noch ein kurzes Vorwort geschrieben; und so langsam nähert sich auch diese
Werkausgabe ihrer (vorläufigen) Vollendung.
Natürlich kann man von einem Autor wie Christopher Paolini, der viele tausend
Seiten mit der Geschichte eines Jungen und seines Drachen gefüllt hat, nicht
erwarten, dass er einen „kurzen“ Science-Fiction-Roman schreibt. Also sind
zumindest die 960 Seiten Umfang von INFINITUM – DIE EWIGKEIT DER STERNE (Knaur,
ISBN 978-3-426-22736-7) keine Überraschung. Ganz anders sieht es da schon damit
aus, dass der Roman wohl als Einzelband konzipiert ist – und natürlich auch,
dass Paolini das ihm eigentlich „fremde“ Genre der Space Opera bedient. Obwohl,
„große Oper“ war sein ERAGON-Zyklus ja auch. In INFINITUM, dessen Originaltitel
TO SLEEP IN A SEA OF STARS den Verlagsverantwortlichen wohl zu viel(?) verraten
hätte, erzählt Paolini die Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau namens
Kira, die bei der Erforschung eines neuentdeckten Planeten auf ein Alien-Artefakt
stößt. Und das, nachdem die Menschheit jahrhundertelang in den Kosmos
vorgestoßen ist, ohne je anderes Leben zu finden. Damit ist das exotische
Umfeld abgesteckt, in dem die nachfolgenden, dramatischen Ereignisse von
unserer Heldin und ihren Freunden alles abfordern, was eine spannende
Geschichte ausmacht. Das aufwändig mit
Illustrationen und Lesebändchen gestaltete Hardcover enthält nicht nur
Kartenmaterial und ein Glossar, sondern auch ein mehrseitiges Nachwort des
Autors, in dem er erzählt, warum er fast zehn Jahre für die Niederschrift
dieses Buches benötigte. Und er legt ein paar „Brotkrumen“ aus, die Lust auf
einen nochmaligen Lesedurchgang machen.
Wer das Glück hatte, Harry Harrison (1925–2012) einmal auf einer Convention zu begegnen,
und die Chancen standen gut, der lernte einen klugen, humorvollen,
sprachgewanden und sehr eigenwilligen Charakter kennen, der stets einen
bleibenden Eindruck hinterließ. Allen diesen menschlichen Besonderheiten
gerecht wird der neueste Band der Reihe SF Personality (SFP 28, ISBN 978-3-948616-40-3),
den Hardy Kettlitz und Christian Hoffmann soeben unter dem
Titel HARRY HARRISON – WELTENBUMMLER UND WITZBOLD im Memoranda Verlag
veröffentlichten. Neben Bibliografie, Biografie und Werkbesprechung enthält der
Band auf seinen 300 Seiten auch noch ein bisher unveröffentlichtes Interview,
das Arno Behrend 1999 mit Harrison
führte, sowie einen Essay von John Clute.
Ein herzerwärmendes Erinnerungsbuch.
Die in den Jahren 2013 bis 2016 bei Piper veröffentlichten
und inzwischen vergriffenen vier Bücher des ATHANOR-Zyklus von David Falk werden seit dem Sommer 2020
im Atlantis Verlag neu aufgelegt. Versehen mit einer neuen Einleitung des
Autors und einigen Extras in den Anhängen liegt bereits der erste Band DER
LETZTE KRIEGER (ISBN 978-3-86402-722-2, 570 S.) in einem massiven, von Timo Kümmel gestalteten und
illustrierten Hardcover vor. Geplant ist, dass die Reihe bis Ende 2021 komplettiert
wird: Eine echte Zierde des Bücherregals.
Ganz großes Kino bietet die inzwischen
vierte bebilderte „alternative Weltgeschichte der Mäuse-Erfindungen“ von Torben Kuhlmann, die unter dem Titel
EINSTEIN (ISBN 978-3-314-10529-6, 128 S.) im NordSüd Verlag erschienen ist.
Diesmal können wir „die fantastische Reise einer Maus durch Raum und Zeit“
mitverfolgen – und erneut zeigt sich, dass die uns Menschen bisher geläufige
Geschichtsschreibung durchaus einige „Ergänzungen“ aus dem Blickwinkel der
kleinen Nager verträgt. Nach LINDBERGH, ARMSTRONG und EDISON wendet sich
Kuhlmann in EINSTEIN erstmals der „echten“ Science Fiction zu und lässt seine
vierpfotigen Helden weit über das Menschen bisher Mögliche hinausgreifen und
Dinge erfinden, zu denen Alberte Einstein zwar die Grundlagen schuf, aber die
Menschheit noch nicht reif ist …
„Es war nur eine grobe Idee, eine Skizze. Aber von Anfang an
wusste ich immer, wie die Geschichte beginnen sollte […] und wie sie endet […].
Der schwierige Teil bestand darin, sich alles dazwischen auszudenken.“
Christopher Paolini; „Nachwort“ in: INFINITUM (S. 954)