Das Jahr 2022 brachte einige Erstlingsromane junger Autorinnen, die zuvor mit Kurzgeschichten
hervorgetreten waren. Zuletzt jetzt Lisa
Jenny Krieg, deren Utopieversuch DREI PHASEN DER ENTWURZELUNG ODER DIE
LIEBE DER SCHILDKRÖTEN soeben im Wortschatten Verlag erschienen ist. Anhand der
Lebensgeschichte von drei Frauen (und ihrer Partner) erzählt Krieg von den
Versuchen, die Menschheitsprobleme der Zukunft durch das Einbringen von
Tier-Genen ins Genom des Homo Sapiens zu lösen – was spannende Geschichten und
unvorhersehbare Katastrophen mit sich bringt …
Daran anschließend will ich es nicht
versäumen, auf den neuen, zweiten, Roman von Aiki Mira hinzuweisen. Der Titel NEONGRAU – GAME OVER IM NEUROSUBSTRAT (Polarise,
520 S.) weist schon darauf hin, dass hier ein völlig anderes Genre verhandelt
wird, als in ihrer „Space-Utopie“ TITANS KINDER. Im Jahr 2112 liegt Hamburg
nicht mehr am, sondern im Meer, und die Einwohner müssen sich
damit auf je eigene Art und Weise arrangieren. Während die einen Bomben bauen,
erleben die anderen die Zeit ihres Lebens. Abstrakte Beschreibungen einer
Zukunft in der abstrakte Protagonisten abstrakte Dinge tun gibt es zuhauf. Bei
Mira dagegen lässt sich miterleben was mit richtigen Personen in ihrem
zukünftigen Dasein geschieht und wie sie darauf reagieren. Wenn Gamer im
Neurosubstrat versinken und eintauchen in die virtuellen Realitäten ihrer
Spiele, wenn Konzertbesucher sich den Beats ihrer Lieblingsbands hingeben, wenn
zwei frisch Verliebte scheue Blicke miteinander tauschen, dann fühlt sich das
beim Lesen so an, als sei man dabei und spiele mit, feiere mit, leide mit. NEONGRAU
ist eine brillant geschriebene, fiebrig pulsierende, rasant sich entwickelnde
Geschichte, deren Sog sich bis zur letzten Seite sogar noch steigert.
Etwas überraschend tauchte das Sachbuch
COMICVERFÜHRER (HarperCollins, 319 S.) von Timur
Vermes vor einigen Tagen auf meinem „Radarschirm“ auf. Vermes hatte ich
bisher nur als Autor von ER IST WIEDER DA gekannt, dass er nicht nur Club-Fan,
sondern auch ein Comic-Kenner allerersten Ranges ist, war mir neu. Angelehnt an
Rolf Vollmanns unerreichten
„Roman-Verführer“ DIE WUNDERBAREN FALSCHMÜNZER erzählt Vermes von den Bildergeschichten
seiner Jugend und den „Wiedereinstiegsdrogen“, die ihn als erwachsenen
Comic-Leser erneut in ihren Bann schlugen. Da ist naturgemäß vieles dabei, das
man kennt (WATCHMEN, MAUS und Will
Eisner), aber in 36 kurzen Kapiteln stellt Vermes auch viele Alternativen
zum altbekannten Mainstream vor, gibt Anregungen und fügt auch, durchaus
kritisch, jeweils eine Reihe von „Outtakes“ hinzu, die er für erwähnenswert
aber nicht essenziell hält. Und ein Buch, das mit den Worten „Frank Miller ist
schuld“ beginnt, muss einfach jeden echten Comic-Fan zum Weiterlesen reizen!
„Ich habe Geoff Darrow mal gefragt, woher dieser böse Blick auf seine
Umwelt kommt. »Ich gehe vor die Tür«, sagt er, »und da sieht es genauso aus.«“
Timur Vermes, in: COMICVERFÜHRER (S. 252)