TEMPORAMORES - Newsletter # 367 - 13.12.2022




KURZMELDUNGEN

Das Jahr 2022 brachte einige Erstlingsromane  junger Autorinnen, die zuvor mit Kurzgeschichten hervorgetreten waren. Zuletzt jetzt Lisa Jenny Krieg, deren Utopieversuch DREI PHASEN DER ENTWURZELUNG ODER DIE LIEBE DER SCHILDKRÖTEN soeben im Wortschatten Verlag erschienen ist. Anhand der Lebensgeschichte von drei Frauen (und ihrer Partner) erzählt Krieg von den Versuchen, die Menschheitsprobleme der Zukunft durch das Einbringen von Tier-Genen ins Genom des Homo Sapiens zu lösen – was spannende Geschichten und unvorhersehbare Katastro­phen mit sich bringt …

Daran anschließend will ich es nicht versäumen, auf den neuen, zweiten, Roman von Aiki Mira hinzuweisen. Der Titel NEONGRAU – GAME OVER IM NEUROSUBSTRAT (Polarise, 520 S.) weist schon darauf hin, dass hier ein völlig anderes Genre verhandelt wird, als in ihrer „Space-Utopie“ TITANS KINDER. Im Jahr 2112 liegt Hamburg nicht mehr am, sondern im Meer, und die Einwohner müssen sich damit auf je eigene Art und Weise arrangieren. Während die einen Bomben bauen, erleben die anderen die Zeit ihres Lebens. Abstrakte Beschreibungen einer Zukunft in der abstrakte Protagonisten abstrakte Dinge tun gibt es zuhauf. Bei Mira dagegen lässt sich miterleben was mit richtigen Personen in ihrem zukünftigen Dasein geschieht und wie sie darauf reagieren. Wenn Gamer im Neurosubstrat versinken und eintauchen in die virtuellen Realitäten ihrer Spiele, wenn Konzertbesucher sich den Beats ihrer Lieblingsbands hingeben, wenn zwei frisch Verliebte scheue Blicke miteinander tauschen, dann fühlt sich das beim Lesen so an, als sei man dabei und spiele mit, feiere mit, leide mit. NEONGRAU ist eine brillant geschriebene, fiebrig pulsierende, rasant sich entwickelnde Geschichte, deren Sog sich bis zur letzten Seite sogar noch steigert.

Etwas überraschend tauchte das Sachbuch COMICVERFÜHRER (HarperCollins, 319 S.) von Timur Vermes vor einigen Tagen auf meinem „Radarschirm“ auf. Vermes hatte ich bisher nur als Autor von ER IST WIEDER DA gekannt, dass er nicht nur Club-Fan, sondern auch ein Comic-Kenner allerersten Ranges ist, war mir neu. Angelehnt an Rolf Vollmanns unerreichten „Roman-Verführer“ DIE WUNDERBAREN FALSCHMÜNZER erzählt Vermes von den Bildergeschichten seiner Jugend und den „Wiedereinstiegsdrogen“, die ihn als erwachsenen Comic-Leser erneut in ihren Bann schlugen. Da ist naturgemäß vieles dabei, das man kennt (WATCHMEN, MAUS und Will Eisner), aber in 36 kurzen Kapiteln stellt Vermes auch viele Alternativen zum altbekannten Mainstream vor, gibt Anregungen und fügt auch, durchaus kritisch, jeweils eine Reihe von „Outtakes“ hinzu, die er für erwähnenswert aber nicht essenziell hält. Und ein Buch, das mit den Worten „Frank Miller ist schuld“ beginnt, muss einfach jeden echten Comic-Fan zum Weiterlesen reizen!



ZITAT

„Ich habe Geoff Darrow mal gefragt, woher dieser böse Blick auf seine Umwelt kommt. »Ich gehe vor die Tür«, sagt er, »und da sieht es genauso aus.«“

Timur Vermes, in: COMICVERFÜHRER (S. 252)



Zurück

Next