Manchmal geschehen noch
Wunder. Eines davon ist z. B. das Erscheinen von Paul Gurks meisterlichem Zukunfts-Roman TUZUB 37 (Hirnkost, ISBN
978-3-98857-048-2, 265 S.), der soeben als siebter Band in der Reihe
„Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“ neu aufgelegt
wurde. Und zwar das erste Mal, nach seiner Erstveröffentlichung 1935, in einer
seiner Bedeutung als bester deutschsprachiger SF-Titel des 20. Jahrhunderts
angemessenen Fassung. Neben dem Romantext enthält das Hardcover ein
einstimmendes Vorwort von Horst Illmer,
ein beziehungsreiches Nachwort von Emil
Fadel und zwei Bonusgeschichten Gurks. Das ist für sich genommen erst
einmal große Klasse; das Wunder ist, dass es der Hirnkost Verlag geschafft hat,
eine Insolvenz rechtzeitig abzuwenden und so den „Mythos von der grauen
Menschheit oder von der Zahl 1“ (Untertitel) neu zu erzählen.
Mit dem neuen Roman PROXI (S.Fischer/
TOR, ISBN 978-3-596-70978-6, 333 Seiten) ist Aiki Mira jetzt endlich bei einem großen Publikums-Verlag
angekommen, eine Entwicklung, die sich u. a. nach dem mehrfachen Gewinn des Kurd
Laßwitz Preises abzeichnete. Erneut widmet sich Mira den Problemen, die das
Zusammenleben von Mensch und von Menschen geschaffener Technik schon in einer
sehr nahen Zukunft mit sich bringen werden. Dass dabei die sogenannte „Künstliche
Intelligenz“ eine Hauptrolle spielt, ist erwartbar. Allerdings deutet schon der
Untertitel, dass es sich hier um eine „Endzeit-Utopie“ handelt, darauf hin,
dass Mira gar nicht daran denkt, die derzeitig überwiegende Negativ-Haltung zu
perpetuieren. Ihre Protagonisten sind so divers und spannend wie es von
richtigen Persönlichkeiten erwartet werden kann, die geschilderte Handlung
lässt überaus plastisch eine beschädigte Zukunftswelt entstehen, in der sich
eine buntgemischte Truppe durchschlagen muss, die, mehr oder weniger freiwillig, auf der Suche nach der überdimensionalen
„Sicherheitskopie“ einer virtuellen Welt ist. Ob wir am Ende der Reise ein
utopisches oder ein abschreckendes Ergebnis vorfinden, liegt dann jedoch im
Ermessen jedes Lesenden… Miras Innovationsfreude, Stilsicherheit und
erzählerische Kraft entwickeln sich von Text zu Text weiter und so kann PROXI
zugleich als bisheriger Schaffens-Höhepunkt und Sprungbrett für weitere große
Science-Fiction-Literatur angesehen werden.
Es
gibt Geschichten über Dinge, die müssen einfach immer wieder erzählt werden.
Dazu gehört momentan auch der Klimawandel. In den letzten Jahren sind hierzu
bereits einige SF-Romane erschienen – als deren wichtigster und prominentester Kim Stanley Robinsons DAS MINISTERIUM
FÜR DIE ZUKUNFT aus dem Jahr 2020 gilt. An diesen knüpft nun der aktuelle Roman
PARTS PER MILLION – GEWALT IST EINE OPTION (TOR, ISBN 978-3-596-70891-8, 368
S.) von Theresa Hannig an, und der
zweite Teil des Titels lässt unschwer erkennen, in welche Richtung es dabei
geht. Hannig hat sich selbst erkennbar intensiv mit den Themen Klimawandel,
Fridays for Future, Naturkatastrophen und Anverwandtem sowie den politischen
und gesellschaftlichen Reaktionen darauf beschäftigt. Ihr Buch ist aus einer
radikalen Ich-Perspektive geschrieben, stilistisch entwickelt sich die Story
rasant voran. Insoweit ist PARTS PER MILLION die mitteleuropäische
Action-Version von Robinsons MINISTERIUM und damit ein beachtliches Statement
einer der engagiertesten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart.
Viel (Lese-)Vergnügen
verspricht das Herbstprogramm des Memoranda Verlags: Von Usch Kiausch erschien der 3. Band ihrer Interview-Sammlung ANDERE
WELTEN (ISBN 978-3-948616-98-4, 238 S.), diesmal aus „literarischer
Perspektive“ und mit Gesprächsbeiträgen von Brian Aldiss, Frank Schätzing, Stephen Donaldson, Christopher Priest und
acht weiteren Autoren. Als Ergänzung gibt es fünf Essays und eine
Kurzgeschichte. // Der erste deutsche Science-Fiction-Fan war Willy Ley – und der ist in den USA viel
bekannter als in seiner Heimat. Dem abzuhelfen versucht der Band DIE INVASION
(ISBN 978-3-911391-02-3, 287 S.), der fünf Kurzgeschichten und drei Artikel von
Ley enthält sowie einen Aufsatz von Wolfgang
Both in dem Ley ausführlich gewürdigt wird. // Nachdem die Anthologie mit
südkoreanischer Science Fiction im Frühjahr für positive Resonanz sorgte, legt
man bei Memoranda nun nach: Herausgegeben von Ünver Alibey enthält der Band ÜBER DEN WOLKEN UND ANDERE
GESCHICHTEN (ISBN 978-3-911391-00-9, 181 S.), acht Stories mit „Science Fiction
aus der Türkei“. Diese bei uns bisher gänzlich unbekannte SF-Szene erfordert
natürlich ein wenig editorische Begleitung, sodass Leser*innen sicherlich
dankbar sind für ein Vorwort des Herausgebers, einleitende Worte der
Übersetzerin Asena German und eine
kurze Geschichte der türkischen Phantastik von Özgür Tacer. Spannend!
Eigentlich auch ein Wunder,
wenngleich ein wiederkehrendes: Auch 2024 gibt es ein SF JAHR (Hirnkost, ISBN
978-3-98857-081-9)! Herausgegeben von Melanie
Wylutzki und Hardy Kettlitz, mit
Unterstützung von Wolfgang Neuhaus
und Michael Wehren, und stramme 590
Seiten stark enthält der unverzichtbare Almanach die gewohnte und geliebte
Mischung aus Zahlen, Daten und übersichtlicher Aufbereitung des multimedialen
Geschehens rund um unser Lieblings-Genre. Mit dabei diesmal: Dietmar Dath, Hans Esselborn, Karlheinz
Steinmüller, Aiki Mira, Bernd Flessner, Erik Simon, Wolfgang Both, Matthias
Hofmann, Judith und Christian Vogt
u.v.a.m. Ein Muss, auch für alle, die eigentlich gar nicht an Wunder glauben.
Wie viele andere
Zeitungsverlage gönnt sich auch DER SPIEGEL die eine oder andere »special
interest«-Reihe. Die im September erschienene Ausgabe 5/2024 von SPIEGEL
GESCHICHTE verbirgt unter dem Titel „Zurück in die Zukunft“ ein 150 Seiten
starkes Science-Fiction-Spezial. Diesmal geht es darum, „wie Menschen sich
früher das Leben von Morgen vorstellten“. Neben einer Vielzahl an alten und
neuen Bildern mit Bezug zum phantastischen Thema gibt es, mehr oder weniger
tiefschürfende, Interviews (mit Isabella
Hermann), Essays (u. a. von Ullrich
Fichtner und Solveig Grothe),
Buchbesprechungen (z. B. Thomas Morus’
»Utopia«, Louis-Sébastien Merciers
»Das Jahr 2440«, Kurd Laßwitz’ »Auf
zwei Planeten« und Jewgenij Samjatins
»Wir«) und Rückblicke über Utopisches in Kino, Architektur und Kunst, die von
der Antike bis zu den Zukunftserwartungen junger Menschen von Heute für das
Jahr 2070 reichen.
„Es scheint auch gar nicht so schwer
zu sein. Und doch zögert sie: Verantwortung zu übernehmen für zwei Leben, die
ihr wichtig sind. Gerade jetzt, da sie mehr in Gefahr zu sein scheinen als
jeden Tag zuvor.
Zwei Leben, die sie trotzdem opfern
würde für die eigene Phantasie von Ewigkeit in virtueller Realität. Kawi hasst
sich für diesen Gedanken. Er ist wahr.
Wenn sie den Tod aller Insassen
ohnehin in Kauf nimmt, kann sie auch dieses Fahrzeug steuern, oder? Ehe sie
sich versieht, hat sie mit Dion die Plätze getauscht und umklammert das Lenkrad
so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten.
»Es ist perfekt zum Festhalten. Das
ist seine wichtigste Funktion.«
Kawi nickt, unfähig etwas zu sagen.
Leichter Schwindel, weil es plötzlich an ihr hängt, diese Maschine anzutreiben.
Schwindel ballt sich zu Aufregung, wälzt sich wie ein Tier durch ihren
Bauchraum. Sie drückt den Fuß runter, beschleunigt. Dion lacht, ermunter sie.
Kawi tritt das Pedal noch etwas weiter durch.
»Spoko, Sus, spoko!« ruft Dion
begeistert.“
Aiki Mira: PROXI (S. 237 f.)