TEMPORAMORES - Newsletter # 397 - 17.10.2024




KURZMELDUNGEN

Manchmal geschehen noch Wunder. Eines davon ist z. B. das Erscheinen von Paul Gurks meisterlichem Zukunfts-Roman TUZUB 37 (Hirnkost, ISBN 978-3-98857-048-2, 265 S.), der soeben als siebter Band in der Reihe „Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“ neu aufgelegt wurde. Und zwar das erste Mal, nach seiner Erstveröffentlichung 1935, in einer seiner Bedeutung als bester deutschsprachiger SF-Titel des 20. Jahrhunderts angemessenen Fassung. Neben dem Romantext enthält das Hardcover ein einstimmendes Vorwort von Horst Illmer, ein beziehungsreiches Nachwort von Emil Fadel und zwei Bonusgeschichten Gurks. Das ist für sich genommen erst einmal große Klasse; das Wunder ist, dass es der Hirnkost Verlag geschafft hat, eine Insolvenz rechtzeitig abzuwenden und so den „Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1“ (Untertitel) neu zu erzählen.

Mit dem neuen Roman PROXI (S.Fischer/ TOR, ISBN 978-3-596-70978-6, 333 Seiten) ist Aiki Mira jetzt endlich bei einem großen Publikums-Verlag angekommen, eine Entwicklung, die sich u. a. nach dem mehrfachen Gewinn des Kurd Laßwitz Preises abzeichnete. Erneut widmet sich Mira den Problemen, die das Zusammenleben von Mensch und von Menschen geschaffener Technik schon in einer sehr nahen Zukunft mit sich bringen werden. Dass dabei die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ eine Hauptrolle spielt, ist erwartbar. Allerdings deutet schon der Untertitel, dass es sich hier um eine „Endzeit-Utopie“ handelt, darauf hin, dass Mira gar nicht daran denkt, die derzeitig überwiegende Negativ-Haltung zu perpetuieren. Ihre Protagonisten sind so divers und spannend wie es von richtigen Persönlichkeiten erwartet werden kann, die geschil­derte Handlung lässt überaus plastisch eine beschädigte Zukunftswelt entstehen, in der sich eine buntgemischte Truppe durchschlagen muss, die, mehr oder weniger freiwillig,  auf der Suche nach der überdimensionalen „Sicherheitskopie“ einer virtuellen Welt ist. Ob wir am Ende der Reise ein utopisches oder ein abschreckendes Ergebnis vorfinden, liegt dann jedoch im Ermessen jedes Lesenden… Miras Innovationsfreude, Stilsicherheit und erzählerische Kraft entwickeln sich von Text zu Text weiter und so kann PROXI zugleich als bisheriger Schaffens-Höhepunkt und Sprungbrett für weitere große Science-Fiction-Literatur angesehen werden.

Es gibt Geschichten über Dinge, die müssen einfach immer wieder erzählt werden. Dazu gehört momentan auch der Klimawandel. In den letzten Jahren sind hierzu bereits einige SF-Romane erschienen – als deren wichtigster und prominentester Kim Stanley Robinsons DAS MINISTERIUM FÜR DIE ZUKUNFT aus dem Jahr 2020 gilt. An diesen knüpft nun der aktuelle Roman PARTS PER MILLION – GEWALT IST EINE OPTION (TOR, ISBN 978-3-596-70891-8, 368 S.) von Theresa Hannig an, und der zweite Teil des Titels lässt unschwer erkennen, in welche Richtung es dabei geht. Hannig hat sich selbst erkennbar intensiv mit den Themen Klima­wandel, Fridays for Future, Naturkatastrophen und Anverwandtem sowie den politischen und gesellschaftlichen Reaktionen darauf beschäftigt. Ihr Buch ist aus einer radikalen Ich-Perspektive geschrieben, stilistisch entwickelt sich die Story rasant voran. Insoweit ist PARTS PER MILLION die mitteleuropäische Action-Version von Robinsons MINISTERIUM und damit ein beachtliches Statement einer der engagiertesten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart.

Viel (Lese-)Vergnügen verspricht das Herbstprogramm des Memoranda Verlags: Von Usch Kiausch erschien der 3. Band ihrer Interview-Sammlung ANDERE WELTEN (ISBN 978-3-948616-98-4, 238 S.), diesmal aus „literarischer Perspektive“ und mit Gesprächsbeiträgen von Brian Aldiss, Frank Schätzing, Stephen Donaldson, Christopher Priest und acht weiteren Autoren. Als Ergänzung gibt es fünf Essays und eine Kurzgeschichte. // Der erste deutsche Science-Fiction-Fan war Willy Ley – und der ist in den USA viel bekannter als in seiner Heimat. Dem abzuhelfen versucht der Band DIE INVASION (ISBN 978-3-911391-02-3, 287 S.), der fünf Kurzgeschichten und drei Artikel von Ley enthält sowie einen Aufsatz von Wolfgang Both in dem Ley ausführlich gewürdigt wird. // Nachdem die Anthologie mit südkoreanischer Science Fiction im Frühjahr für positive Resonanz sorgte, legt man bei Memoranda nun nach: Herausgegeben von Ünver Alibey enthält der Band ÜBER DEN WOLKEN UND ANDERE GESCHICHTEN (ISBN 978-3-911391-00-9, 181 S.), acht Stories mit „Science Fiction aus der Türkei“. Diese bei uns bisher gänzlich unbekannte SF-Szene erfordert natürlich ein wenig editorische Begleitung, sodass Leser*innen sicherlich dankbar sind für ein Vorwort des Herausgebers, einleitende Worte der Übersetzerin Asena German und eine kurze Geschichte der türkischen Phantastik von Özgür Tacer. Spannend!

Eigentlich auch ein Wunder, wenngleich ein wiederkehrendes: Auch 2024 gibt es ein SF JAHR (Hirnkost, ISBN 978-3-98857-081-9)! Herausgegeben von Melanie Wylutzki und Hardy Kettlitz, mit Unterstützung von Wolfgang Neuhaus und Michael Wehren, und stramme 590 Seiten stark enthält der unverzichtbare Almanach die gewohnte und geliebte Mischung aus Zahlen, Daten und übersichtlicher Aufbereitung des multimedialen Geschehens rund um unser Lieblings-Genre. Mit dabei diesmal: Dietmar Dath, Hans Esselborn, Karlheinz Steinmüller, Aiki Mira, Bernd Flessner, Erik Simon, Wolfgang Both, Matthias Hofmann, Judith und Christian Vogt u.v.a.m. Ein Muss, auch für alle, die eigentlich gar nicht an Wunder glauben.

Wie viele andere Zeitungsverlage gönnt sich auch DER SPIEGEL die eine oder andere »special interest«-Reihe. Die im September erschienene Ausgabe 5/2024 von SPIEGEL GESCHICHTE verbirgt unter dem Titel „Zurück in die Zukunft“ ein 150 Seiten starkes Science-Fiction-Spezial. Diesmal geht es darum, „wie Menschen sich früher das Leben von Morgen vorstellten“. Neben einer Vielzahl an alten und neuen Bildern mit Bezug zum phantastischen Thema gibt es, mehr oder weniger tiefschürfende, Interviews (mit Isabella Hermann), Essays (u. a. von Ullrich Fichtner und Solveig Grothe), Buchbesprechungen (z. B. Thomas Morus’ »Utopia«, Louis-Sébastien Merciers »Das Jahr 2440«, Kurd Laßwitz’ »Auf zwei Planeten« und Jewgenij Samjatins »Wir«) und Rückblicke über Utopisches in Kino, Architektur und Kunst, die von der Antike bis zu den Zukunftserwartungen junger Menschen von Heute für das Jahr 2070 reichen.


ZITAT

„Es scheint auch gar nicht so schwer zu sein. Und doch zögert sie: Verantwortung zu übernehmen für zwei Leben, die ihr wichtig sind. Gerade jetzt, da sie mehr in Gefahr zu sein scheinen als jeden Tag zuvor.

Zwei Leben, die sie trotzdem opfern würde für die eigene Phantasie von Ewigkeit in virtueller Realität. Kawi hasst sich für diesen Gedanken. Er ist wahr.

Wenn sie den Tod aller Insassen ohnehin in Kauf nimmt, kann sie auch dieses Fahrzeug steuern, oder? Ehe sie sich versieht, hat sie mit Dion die Plätze getauscht und umklammert das Lenkrad so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten.

»Es ist perfekt zum Festhalten. Das ist seine wichtigste Funktion.«

Kawi nickt, unfähig etwas zu sagen. Leichter Schwindel, weil es plötzlich an ihr hängt, diese Maschine anzutreiben. Schwindel ballt sich zu Aufregung, wälzt sich wie ein Tier durch ihren Bauchraum. Sie drückt den Fuß runter, beschleunigt. Dion lacht, ermunter sie. Kawi tritt das Pedal noch etwas weiter durch.

»Spoko, Sus, spoko!« ruft Dion begeistert.“

 Aiki Mira: PROXI (S. 237 f.)



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