Im Jahr 1983 veranstaltete der
Science Fiction Stammtisch Würzburg eine Umfrage unter seinen Brüdern und
Schwestern, welches denn die „beliebtesten“ Romane, Kurzgeschichten usw. seien,
die diese (bis dahin) gelesen hatten. Den größten Vorsprung in allen Kategorien
erreichte damals die Novelle „Die Trägheit des Auges“ von John Varley. Die Original-Geschichte „The Persistence of Vision“
(1978) räumte HUGO, NEBULA und LOCUS Award ab, die deutsche Übersetzung von
Rose Aichele erschien 1979 und wurde mehrfach nachgedruckt. John Herbert
Varley, geboren am 9. August 1947 in Texas, ist am 10. Dezember 2025 in Oregon
verstorben. „Persistence“ bedeutet auch
„Beständigkeit“ – in diesem Sinne wird er in unseren Herzen bleiben.
Seit 2008 die Originalausgabe
erschienen ist, warte und hoffe ich auf eine deutsche Übersetzung. Die ist
jetzt im Carcosa Verlag erschienen und es ist mir eine Ehre und Freude den Roman LAVINIA von Ursula K. Le Guin in der gelungenen
Übertragung von Matthias Fersterer
hier vorzustellen. Da ich nicht zu Jenen gehöre, die ihren „Vergil im Original
lesen“ können (wie die Romanistin Le Guin gerne erzählte), musste ich vor der
Lektüre noch mal schnell das Internet befragen: Der römische Dichter Vergil lebte im 1. Jahrhundert vor Christus
und verfasste mit seinem Versepos AENEIS den Gründungsmythos des Römischen
Reiches. Darin erzählt er die Fahrten und Abenteuer des Aeneas, beginnend mit
dessen Flucht aus dem brennenden Troja bis hin zu seiner Landung in Italien wo
er König Latinus kennen lernt und dessen Tochter Lavinia zur Frau nimmt. Ihr
bleibt bei Vergil jedoch eine stille Nebenrolle beschieden. In diese
Rahmenhandlung fügt Le Guin ihre Version vom Leben der Prinzessin, Ehefrau,
Mutter und Königin Lavinia ein um ihr „poetische Gerechtigkeit“ widerfahren zu
lassen. In einer traumhaft schönen Sprache schreibt Le Guin, hier in der Rolle
einer Übersetzerin, ihre Prosafassung der Vergil’schen Heldendichtung. Sie hat
in Lavinia die ideale Erzählfigur gefunden: nahe genug an den Ereignissen um
glaubhaft ihre Version darlegen zu können, aber nicht vorbelastet durch zu viel
Beschreibung des antiken Dichters. Le Guins Stil ist fast postmodern zu nennen;
sie bricht das Geschehen immer wieder auf, um zum Beispiel die Figur Lavinia
(die sich ihrer Figurenrolle bewusst wird) mit ihrem „Erfinder“ Vergil ins
Gespräch zu bringen. Auch Lavinias Erkenntnis, dass sie ihr Leben ab einem
bestimmten Zeitpunkt nun ohne die Visionen des Dichters weiterleben muss,
deutet weit über den Rahmen eines gewöhnlichen Historiendramas hinaus. LAVINIA
ist ein Buch, das beim Lesen alle Sinne berührt und viele Emotionen weckt – und
nachher ein Gefühl von erhabener Fröhlichkeit hinterlässt. Ganz, ganz große
Literatur.
„Es geschah in dem Jahr, als sich die Wirtschaft zum viertenmal
wieder etwas erholt hatte. Ich war erst kürzlich arbeitslos geworden. Nach den
Worten des Präsidenten hatte ich aber nichts als die Angst selber zu
befürchten. Zur Abwechslung nahm ich ihn also einmal beim Wort, packte meinen
Rucksack und machte mich auf den Weg nach Kalifornien.“
John
Varley – „Die Trägheit des Auges“; in: Ders.
– VORAUSSICHTEN. (S. 62)