TEMPORAMORES - Newsletter # 417 - 13.12.2025




NACHRUF

Im Jahr 1983 veranstaltete der Science Fiction Stammtisch Würzburg eine Umfrage unter seinen Brüdern und Schwestern, welches denn die „beliebtesten“ Romane, Kurzgeschichten usw. seien, die diese (bis dahin) gelesen hatten. Den größten Vorsprung in allen Kategorien erreichte damals die Novelle „Die Trägheit des Auges“ von John Varley. Die Original-Geschichte „The Persistence of Vision“ (1978) räumte HUGO, NEBULA und LOCUS Award ab, die deutsche Übersetzung von Rose Aichele erschien 1979 und wurde mehrfach nachgedruckt. John Herbert Varley, geboren am 9. August 1947 in Texas, ist am 10. Dezember 2025 in Oregon verstorben. „Persistence“ bedeutet auch „Beständigkeit“ – in diesem Sinne wird er in unseren Herzen bleiben.


KURZMELDUNG

Seit 2008 die Originalausgabe erschienen ist, warte und hoffe ich auf eine deutsche Übersetzung. Die ist jetzt im Carcosa Verlag erschienen und es ist mir eine Ehre und Freude den Roman LAVINIA von Ursula K. Le Guin in der gelungenen Übertragung von Matthias Fersterer hier vorzustellen. Da ich nicht zu Jenen gehöre, die ihren „Vergil im Original lesen“ können (wie die Romanistin Le Guin gerne erzählte), musste ich vor der Lektüre noch mal schnell das Internet befragen: Der römische Dichter Vergil lebte im 1. Jahrhundert vor Christus und verfasste mit seinem Versepos AENEIS den Gründungsmythos des Römischen Reiches. Darin erzählt er die Fahrten und Abenteuer des Aeneas, beginnend mit dessen Flucht aus dem brennenden Troja bis hin zu seiner Landung in Italien wo er König Latinus kennen lernt und dessen Tochter Lavinia zur Frau nimmt. Ihr bleibt bei Vergil jedoch eine stille Nebenrolle beschieden. In diese Rahmenhandlung fügt Le Guin ihre Version vom Leben der Prinzessin, Ehefrau, Mutter und Königin Lavinia ein um ihr „poetische Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen. In einer traumhaft schönen Sprache schreibt Le Guin, hier in der Rolle einer Übersetzerin, ihre Prosafassung der Vergil’schen Heldendichtung. Sie hat in Lavinia die ideale Erzählfigur gefunden: nahe genug an den Ereignissen um glaubhaft ihre Version darlegen zu können, aber nicht vorbelastet durch zu viel Beschreibung des antiken Dichters. Le Guins Stil ist fast postmodern zu nennen; sie bricht das Geschehen immer wieder auf, um zum Beispiel die Figur Lavinia (die sich ihrer Figurenrolle bewusst wird) mit ihrem „Erfinder“ Vergil ins Gespräch zu bringen. Auch Lavinias Erkenntnis, dass sie ihr Leben ab einem bestimmten Zeitpunkt nun ohne die Visionen des Dichters weiterleben muss, deutet weit über den Rahmen eines gewöhnlichen Historiendramas hinaus. LAVINIA ist ein Buch, das beim Lesen alle Sinne berührt und viele Emotionen weckt – und nachher ein Gefühl von erhabener Fröhlichkeit hinterlässt. Ganz, ganz große Literatur.


ZITAT

„Es geschah in dem Jahr, als sich die Wirtschaft zum viertenmal wieder etwas erholt hatte. Ich war erst kürzlich arbeitslos geworden. Nach den Worten des Präsidenten hatte ich aber nichts als die Angst selber zu befürchten. Zur Abwechslung nahm ich ihn also einmal beim Wort, packte meinen Rucksack und machte mich auf den Weg nach Kalifornien.“

John Varley – „Die Trägheit des Auges“; in: Ders. – VORAUSSICHTEN. (S. 62)



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