Bei Carcosa sind gerade zwei wundervolle
Romane als deutsche Erstausgaben erschienen deren Erstveröffentlichung fünfzig
Jahre (Wolfe), bzw. fast vierzig Jahre (Moorcock), zurück liegen. Trotzdem
beweist sich auch hier wieder jenes untrügliche Gespür für vergessene oder
übersehene Perlen der phantastischen Literatur, das den Verleger Hannes Riffel bei seiner gesamten
bisherigen Programmauswahl leitete.
Genannt sei hier zuerst das
monumentale MUTTER LONDON (ISBN 978-3-910914-34-6, 726 S., Klappenbroschur) von Michael Moorcock.
Der 1939 geborene Moorcock veröffentlicht bereits seit 1957 und als er 1988
seine Liebeserklärung an die Stadt London, ihre Bewohner und ihre Mythen
herausbrachte, befand er sich ganz offensichtlich auf dem Höhepunkt seiner
Schaffenskraft. Und obwohl damals eine ungeheure Zahl an Moorcock-Büchern auf
Deutsch erschien, wagte sich keiner seiner Hausverlage an dieses von vielen
Kritikern als sein bestes bezeichnete Werk. Erst jetzt also ist es möglich, den
Wegen der drei Hauptfiguren Mary, Josef und David über die Jahre zwischen 1940
und 1985 durch ein London zu folgen, das große Ähnlichkeit mit der für uns
realen Stadt hat, aber an bestimmten Punkten ganz leicht in einer alternativen
Welt angesiedelt ist. Wer wissen will, woher Alan Moore die größte Anregung für sein JERUSALEM-Buch hat, wird
nach der Lektüre von MUTTER LONDON keinerlei Zweifel mehr haben.
Auch wenn Gene Wolfe in einem launigen Gespräch mit Neil Gaiman (abgedruckt in Heft 500 des Magazins LOCUS) einst energisch bestritt „zu
lügen“, so sagt er jedoch fast nirgendwo einfach nur „die Wahrheit“. Und so
stehen die Leser*innen von FRIEDEN (ISBN 978-3-910914-36-0, 312 S.,
Klappenbroschur) auch diesmal wieder ständig
vor der Entscheidung, ob und wie viel sie dem „unzuverlässigen“ Erzähler
glauben wollen und sollen. Dieser Ich-Erzähler nennt sich Alden „Den“ Weer,
lebt zu einer unbestimmbaren Zeit in einem unbestimmbar großen Haus und
reflektiert in nicht-chronologischen Gedankensprüngen sein Leben. Allerdings
könnte es auch sein, dass Mr. Weer bereits vor einiger Zeit gestorben ist –
nur, wer erzählt dann so eindringlich von seinen Abenteuern? Eine veritable Gespenstergeschichte,
die (auch aufgrund der gelungenen Übersetzung durch Hannes Riffel) auf höchstem sprachlichem Niveau zu fesseln vermag.
Zudem erschien auch noch eine
preisgünstige Softcover-Ausgabe von Ursula
K. Le Guins Opus Magnum IMMER NACH HAUSE (ISBN 978-3-910914-38-4, 863 S.,
Klappenbroschur), jenem Titel, mit dem Carcosa 2023 sein Programm startete. Die
Neuausgabe ist textgleich mit dem Hardcover, eignet sich daher also unter
Umständen besser fürs Einpacken und in den Urlaub mitnehmen.
Eigentlich ist die KOLLEKTION LASSWITZ bei DvR ja schon einige
Zeit abgeschlossen, aber nachdem kürzlich noch der dritte Sekundärband von Rudi Schweikert erschienen ist, nahm
sich der Herausgeber und Verleger Dieter
von Reeken die Original-Texte noch einmal vor. DvR hat jetzt mit VOR DEM
NULLPUNKT DES SEINS (ISBN 978-3-911230-16-2, 140 S.) eine kleine Sammlung kaum
bekannter Geschichten aus der Studienzeit des späteren Lehrers Kurd Laßwitz vorgelegt, aus der vor
allem die Urfassung seiner ersten SF-Story „Bis zum Nullpunkt des Seins“ aus
dem Jahr 1871 heraussticht, die seit dem damaligen Zeitungsabdruck nur noch in
(wie man jetzt feststellen kann) stark überarbeiteter Form nachgedruckt wurde. Nicht
nur für Philologen eine überaus interessante Lektüre!
Der Verlagswechsel hat geklappt: Die von Michael Vogt und René Moreau
seit 2019 betreute Hardcover-Comic-Anthologien-Reihe COZMIC erscheint mit
Ausgabe 10 im Verlag Kult Comics (ISBN 978-3-96430-488-9, 96 S.). Geblieben sind
(bis jetzt) Umfang und Format – und natürlich die inhaltliche Qualität.
Weggefallen sind redaktionelle Sparten und Sekundärtexte – also volle
Konzentration aufs Wesentliche. Diesmal in der „phantastischen
Comic-Anthologie“: Den Aufmacher gibt die Story „Alfhilda – Die Legende von der
Wilden Hilde“, für die Falko Kutz und Frank Cmuchal verantwortlich zeichnen.
Danach folgen 10 weitere Kurzgeschichten u. a. von Frauke Berger, Jan Hoffmann, Victor Boden, Andreas Tolxdorf und Ingo Lohse, der mit „Mela Nova“ den
sechsten und abschließenden Teil seiner „Mela“-Saga beiträgt. Drei Seiten „COZMIC-Art“
und die Kurzbiografien der Künstler*innen runden die aktuelle COZMIC-Ausgabe
ab. Schade, dass die nächste Nummer wohl erst in einem Jahr fällig ist.
Das Programm von S.Fischer/TOR bietet zur Zeit überwiegend
Material weiblich gelesener Personen aus dem angloamerikanischen Raum. Aktuell
sind das EMILY WILDES KOMPENDIUM DER VERLORENEN GESCHICHTEN (ISBN
978-3-596-71188-8, 460 S., Hardcover) von Heather
Fawcett, in dem die Kanadierin ihre Held*innen zum dritten Mal mit dem
Feenreich konfrontiert. Und von der vielseitig begabten V. E. Schwab liegt mit BURY OUR BONES IN THE MIDNIGHT SOIL (ISBN
978-3-596-71032-4, 687 S., Hardcover) ein über mehrere Jahrhunderte andauernder
Horror-Schmöker vor, in dem drei weibliche Vampire miteinander koalieren und
konkurrieren. Einziges Manko: Auch hier folgt man dem Trend zum
englischsprachigen Buchtitel – nur um dann doch ganz klein und zaghaft ein
„Liebe stirbt zuletzt“ auf den Titel zu schmuggeln. Also echt! Als wären die
Übersetzerinnen Petra Huber und Sara Riffel nicht in der Lage, ihrer
kongenialen deutschen Fassung nicht auch noch einen tollen Titel zu verpassen.
Einfach so, völlig unerwartet, flutschte die 36. Ausgabe von NOVA
(p.machinery, ISBN 978-3-95765-456-4, 156 S.) aus einem der gerade
angelieferten Buchpakete. Das aktuelle „Magazin für spekulative Literatur“
(redaktionell betreut von Marianne
Labisch und Dominik Irtenkauf)
ist etwas schlanker als gewohnt, enthält aber gleichwohl neun lesenswerte Kurzgeschichten,
u. a. von Gabriele Behrend, Achim Stößer
und Frank Lauenroth, illustriert u.
a. von Frank G. Gerigk, Jaana Redflower
und Chris Schlicht. Im Sekundärteil gibt
es dann ein Interview mit dem Nobelpreisträger Prof. Dr. Joachim Frank, von dem einige Seiten vorher (wie durch Zufall) eine
SF-Story zu lesen war. Den Abschluss bilden Nachrufe von Jörg Weigand, Marianne Labisch und Rüdiger Schäfer auf den kürzlich verstorbenen Rainer Schorm, der zudem das Titelbild von NOVA 36 schuf.
Im Jahr 1981 erschien im
Moewig Verlag mit ZEITSPLITTER ein Bildband von Alfred Kelsner, der 16 Kurzgeschichten von Willi Voltz (1938–1984) enthielt (oder vice versa). Laut Voltz
sollte dieser Zusammenarbeit ein weiterer Band mit dem Titel „Raumfragmente“
folgen. Was Voltz’ früher Tod verhinderte, holen jetzt Kelsner (Bilder) und Gerhard Börnsen (Texte) in
RAUMFRAGMENTE (p.machinery, ISBN 978-3-95765-451-9, 120 S.) nach. Eingebettet
in eine kurze Rahmenhandlung erzählt Börnsen eine Space-Opera anhand von
Kelsners Bildern. Das großformatige Buch enthält zudem einen Anhang mit
weiteren Bildern und Erinnerungen des beliebten PERRY
RHODAN-Titelbildkünstlers.
»So they broke into the hole in the ground, and they killed the kid, and
all the lights went out in Omelas: click, click, click. And the pipes burst and
there was a sewage leak and the newscasters said there was a typhoon on the
way, so they (a different “they,” these were the “they” in charge, the “they”
who lived in the nice houses in Omelas [okay, every house in Omelas was a nice
house, but these were Nice Houses]) got another kid and put it in the hole.«
Isabel J. Kim, in: “Why
don’t we just kill the kid in the Omelas Hole”