TEMPORAMORES - Newsletter # 408 - 29.06.2025




KURZMELDUNGEN

Bei Carcosa sind gerade zwei wundervolle Romane als deutsche Erstausgaben erschienen deren Erstveröffentlichung fünfzig Jahre (Wolfe), bzw. fast vierzig Jahre (Moorcock), zurück liegen. Trotzdem beweist sich auch hier wieder jenes untrügliche Gespür für vergessene oder übersehene Perlen der phantastischen Literatur, das den Verleger Hannes Riffel bei seiner gesamten bisherigen Programmauswahl leitete.

Genannt sei hier zuerst das monumentale MUTTER LONDON (ISBN 978-3-910914-34-6, 726 S., Klappenbroschur) von Michael Moorcock. Der 1939 geborene Moorcock veröffentlicht bereits seit 1957 und als er 1988 seine Liebeserklärung an die Stadt London, ihre Bewohner und ihre Mythen herausbrachte, befand er sich ganz offensichtlich auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Und obwohl damals eine ungeheure Zahl an Moorcock-Büchern auf Deutsch erschien, wagte sich keiner seiner Hausverlage an dieses von vielen Kritikern als sein bestes bezeichnete Werk. Erst jetzt also ist es möglich, den Wegen der drei Hauptfiguren Mary, Josef und David über die Jahre zwischen 1940 und 1985 durch ein London zu folgen, das große Ähnlichkeit mit der für uns realen Stadt hat, aber an bestimmten Punkten ganz leicht in einer alternativen Welt angesiedelt ist. Wer wissen will, woher Alan Moore die größte Anregung für sein JERUSALEM-Buch hat, wird nach der Lektüre von MUTTER LONDON keinerlei Zweifel mehr haben.

Auch wenn Gene Wolfe in einem launigen Gespräch mit Neil Gaiman (abgedruckt in Heft 500 des Magazins LOCUS) einst energisch bestritt „zu lügen“, so sagt er jedoch fast nirgendwo einfach nur „die Wahrheit“. Und so stehen die Leser*innen von FRIEDEN (ISBN 978-3-910914-36-0, 312 S., Klappenbroschur) auch diesmal wieder ständig vor der Entscheidung, ob und wie viel sie dem „unzuverlässigen“ Erzähler glauben wollen und sollen. Dieser Ich-Erzähler nennt sich Alden „Den“ Weer, lebt zu einer unbestimmbaren Zeit in einem unbestimmbar großen Haus und reflektiert in nicht-chronologischen Gedankensprüngen sein Leben. Allerdings könnte es auch sein, dass Mr. Weer bereits vor einiger Zeit gestorben ist – nur, wer erzählt dann so eindringlich von seinen Abenteuern? Eine veritable Gespenstergeschichte, die (auch aufgrund der gelungenen Übersetzung durch Hannes Riffel) auf höchstem sprachlichem Niveau zu fesseln vermag.

Zudem erschien auch noch eine preisgünstige Softcover-Ausgabe von Ursula K. Le Guins Opus Magnum IMMER NACH HAUSE (ISBN 978-3-910914-38-4, 863 S., Klappenbroschur), jenem Titel, mit dem Carcosa 2023 sein Programm startete. Die Neuausgabe ist textgleich mit dem Hardcover, eignet sich daher also unter Umständen besser fürs Einpacken und in den Urlaub mitnehmen.

 

Eigentlich ist die KOLLEKTION LASSWITZ bei DvR ja schon einige Zeit abgeschlossen, aber nachdem kürzlich noch der dritte Sekundärband von Rudi Schweikert erschienen ist, nahm sich der Herausgeber und Verleger Dieter von Reeken die Original-Texte noch einmal vor. DvR hat jetzt mit VOR DEM NULLPUNKT DES SEINS (ISBN 978-3-911230-16-2, 140 S.) eine kleine Sammlung kaum bekannter Geschichten aus der Studienzeit des späteren Lehrers Kurd Laßwitz vorgelegt, aus der vor allem die Urfassung seiner ersten SF-Story „Bis zum Nullpunkt des Seins“ aus dem Jahr 1871 heraussticht, die seit dem damaligen Zeitungsabdruck nur noch in (wie man jetzt feststellen kann) stark überarbeiteter Form nachgedruckt wurde. Nicht nur für Philologen eine überaus interessante Lektüre!

Der Verlagswechsel hat geklappt: Die von Michael Vogt und René Moreau seit 2019 betreute Hardcover-Comic-Anthologien-Reihe COZMIC erscheint mit Ausgabe 10 im Verlag Kult Comics (ISBN 978-3-96430-488-9, 96 S.). Geblieben sind (bis jetzt) Umfang und Format – und natürlich die inhaltliche Qualität. Weggefallen sind redaktionelle Sparten und Sekundärtexte – also volle Konzentration aufs Wesentliche. Diesmal in der „phantastischen Comic-Anthologie“: Den Aufmacher gibt die Story „Alfhilda – Die Legende von der Wilden Hilde“, für die Falko Kutz und Frank Cmuchal verantwortlich zeichnen. Danach folgen 10 weitere Kurzgeschichten u. a. von Frauke Berger, Jan Hoffmann, Victor Boden, Andreas Tolxdorf und Ingo Lohse, der mit „Mela Nova“ den sechsten und abschließenden Teil seiner „Mela“-Saga beiträgt. Drei Seiten „COZMIC-Art“ und die Kurzbiografien der Künstler*innen runden die aktuelle COZMIC-Ausgabe ab. Schade, dass die nächste Nummer wohl erst in einem Jahr fällig ist.

Das Programm von S.Fischer/TOR bietet zur Zeit überwiegend Material weiblich gelesener Personen aus dem angloamerikanischen Raum. Aktuell sind das EMILY WILDES KOMPENDIUM DER VERLORENEN GESCHICHTEN (ISBN 978-3-596-71188-8, 460 S., Hardcover) von Heather Fawcett, in dem die Kanadierin ihre Held*innen zum dritten Mal mit dem Feenreich konfrontiert. Und von der vielseitig begabten V. E. Schwab liegt mit BURY OUR BONES IN THE MIDNIGHT SOIL (ISBN 978-3-596-71032-4, 687 S., Hardcover) ein über mehrere Jahrhunderte andauernder Horror-Schmöker vor, in dem drei weibliche Vampire miteinander koalieren und konkurrieren. Einziges Manko: Auch hier folgt man dem Trend zum englischsprachigen Buchtitel – nur um dann doch ganz klein und zaghaft ein „Liebe stirbt zuletzt“ auf den Titel zu schmuggeln. Also echt! Als wären die Übersetzerinnen Petra Huber und Sara Riffel nicht in der Lage, ihrer kongenialen deutschen Fassung nicht auch noch einen tollen Titel zu verpassen.

Einfach so, völlig unerwartet, flutschte die 36. Ausgabe von NOVA (p.machinery, ISBN 978-3-95765-456-4, 156 S.) aus einem der gerade angelieferten Buchpakete. Das aktuelle „Magazin für spekulative Literatur“ (redaktionell betreut von Marianne Labisch und Dominik Irtenkauf) ist etwas schlanker als gewohnt, enthält aber gleichwohl neun lesenswerte Kurzgeschichten, u. a. von Gabriele Behrend, Achim Stößer und Frank Lauenroth, illustriert u. a. von Frank G. Gerigk, Jaana Redflower und Chris Schlicht. Im Sekundärteil gibt es dann ein Interview mit dem Nobelpreisträger Prof. Dr. Joachim Frank, von dem einige Seiten vorher (wie durch Zufall) eine SF-Story zu lesen war. Den Abschluss bilden Nachrufe von Jörg Weigand, Marianne Labisch und Rüdiger Schäfer auf den kürzlich verstorbenen Rainer Schorm, der zudem das Titelbild von NOVA 36 schuf.

Im Jahr 1981 erschien im Moewig Verlag mit ZEITSPLITTER ein Bildband von Alfred Kelsner, der 16 Kurzgeschichten von Willi Voltz (1938–1984) enthielt (oder vice versa). Laut Voltz sollte dieser Zusammenarbeit ein weiterer Band mit dem Titel „Raumfragmente“ folgen. Was Voltz’ früher Tod verhinderte, holen jetzt Kelsner (Bilder) und Gerhard Börnsen (Texte) in RAUMFRAGMENTE (p.machinery, ISBN 978-3-95765-451-9, 120 S.) nach. Eingebettet in eine kurze Rahmenhandlung erzählt Börnsen eine Space-Opera anhand von Kelsners Bildern. Das großformatige Buch enthält zudem einen Anhang mit weiteren Bildern und Erinnerungen des beliebten PERRY RHODAN-Titelbildkünstlers.


ZITAT

»So they broke into the hole in the ground, and they killed the kid, and all the lights went out in Omelas: click, click, click. And the pipes burst and there was a sewage leak and the newscasters said there was a typhoon on the way, so they (a different “they,” these were the “they” in charge, the “they” who lived in the nice houses in Omelas [okay, every house in Omelas was a nice house, but these were Nice Houses]) got another kid and put it in the hole.«

Isabel J. Kim, in: “Why don’t we just kill the kid in the Omelas Hole”



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