TEMPORAMORES - Newsletter # 150 - 08.3.2010




ZITAT

„Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich mein ganzes Leben noch nichts und niemanden getötet“, sagte der Drache. Er schlug das Buch zu und musterte Kenny. „Vor vielen Jahren war das so eine Mode bei den anderen Drachen. Das war noch nie mein Stil. Ich bin eher, was du einen Mann des Geistes nennen würdest. Ich reise gerne und freue mich, etwas von der Welt zu sehen, anstatt sie zu zerstören. Und Prinzessinnen verspeise ich aus Prinzip nicht.“

 

Tony DiTerlizzi – KENNY UND DER DRACHE, S. 31

KURZMELDUNGEN

Soeben erschien das herrliche Büchlein KENNY UND DER DRACHE (Verlag cbj, ISBN 978-3-570-13815-1), das von Tony DiTerlizzi geschrieben und illustriert wurde, der in Deutschland bisher vor allem für seine Bilder zur SPIDERWICK-Serie von Holly Black bekannt war. Der Held der Geschichte ist ein bücherlesendes Kaninchen namens Kenny, das Freundschaft mit einem Drachen schließt und daraufhin jede Menge Ärger mit seiner Familie bekommt. Die Story ist solide erzählt, voller literarischer Anspielungen und liebevoll mit vielen  Bleistiftzeichnungen geschmückt. Die deutsche Ausgabe wurde von Anne Brauner übersetzt und ist ein echtes Schmuckstück geworden (fester Einband, Schutzumschlag mit Goldprägung, großzügiger und breitrandiger Druck), das in jeden Haushalt gehört – und sich sehr gut als Ostergeschenk eignet!

Manchmal muss man nehmen, was man bekommt: Klett-Cotta brachte in seiner Hobbit Presse den Kurzgeschichtenband ZERBRECHLICHE DINGE (ISBN 978-3-608-93876-0) von Superstar Neil Gaiman heraus. Die darin laut Untertitel enthaltenen vierzehn „Geschichten & Wunder“ stellen einen guten Querschnitt durch das Werk des englischen Autors dar. Das Spektrum reicht von der kaum mehr als eine Seite umfassende Short-Story „Am Ende“ bis zur 35-seitigen Verbeugung vor Sherlock Holmes und Arthur Conan Doyle („Eine Studie in smaragdgrün“). Einige der Geschichten wurden inzwischen für Comics adaptiert („Die wahren Umstände im Fall des Verschwindens von Miss Finch“), andere sind als Seitenstücke zu Gaimans AMERICAN GODS-Universum gedacht („Der Herr des Tals“). Was allerdings etwas seltsam anmutet, ist die Anmerkung des Verlags, man habe die deutsche Ausgabe „neu zusammengestellt“, was in diesem Fall eine Kürzung der Originalausgabe FRAGILE THINGS bedeutet, die 31 Texte enthielt.

Ein außergewöhnlich schönes Buch ist die Sonderausgabe von Michael Endes MOMO, mit mehr als 30 Illustrationen von Friedrich Hechelmann, die bereits Ende 2009 erschien. Der Thienemanns Verlag brachte das großformatige Werk in zwei Varianten auf den Markt. Neben der normalen Ausgabe (ISBN 978-3-522-20070-7) gibt es auch eine auf dreihundert Exemplare limitierte Vorzugsausgabe mit einer signierten Druckgrafik des Künstlers. Hechelmanns Bilder passen sich wundervoll der phantastischen Stimmung des Romans an und stellen einen Höhepunkt in seinem Schaffen dar.

JUBILÄUMSAUSGABE

Im Folgenden blicken wir auf 150 Ausgaben des TEMPORAMORES-Newsletter zurück, die inzwischen erschienen sind und lassen noch einmal die Höhepunkte des vergangenen Jahrzehnts Revue passieren. Viel Vergnügen!




Rückblick



In etwas mehr als zehn Jahren 150 Ausgaben eines Newsletter zu produzieren – das macht uns dann doch auch ein wenig stolz. In diesen zehn Jahren deutlich mehr als nur einer Handvoll Familienangehörigen, Freunden und Freundinnen, Bekannten und Gastlesern allmonatlich neue Bücher, Hefte, Comics, Filme und anregende Zitate vorgestellt zu haben – das war unser Bestreben. Nach 149 Ausgaben des TEMPORAMORES-Newsletter auf exakt NULL Beschwerden zurückblicken zu können, wird in der Redaktion als höchstmögliches Lob gewertet.




Best of 2000 – 2009



Ein spannendes Jahrzehnt liegt hinter uns, auch wenn die Bezeichnung „die Nuller-Jahre“ etwas anderes vermuten lässt. Für die phantastische Literatur und ihre multimedialen Ableger in Kunst und Film ging es so steil bergauf, dass es selbst den größten Optimisten beim Betrachten der Erfolgskurven schwindlig wurde. Das reicht von den HARRY POTTER-Büchern von Joanne K. Rowling bis zu James Camerons AVATAR, dem erfolgreichsten Film aller Zeiten.

Wer mag, darf gerne einmal ins Newsletter-Archiv „hinabsteigen“ – noch sind alle früheren Ausgaben online – und sich an den Neuigkeiten aus der bereits vergangenen Zukunft erfreuen. Für alle, die es etwas kürzer bevorzugen, hier unsere persönlichen Lieblinge der letzten zehn Jahre.




Alte Helden



Nicht nur in der Pop-Musik konnte man sich auf sie verlassen: Die alten Haudegen zeigten, dass sie immer noch nicht zum „alten Eisen“ gehören, sondern durchaus in der Lage sind, beim Ausfechten der Spitzenplätze zu bestehen.

Unsere absolute Lieblingsautorin Ursula K. Le Guin bestach mit einem wundervoll geschriebenen Alterswerk (darunter die Trilogie GIFTS, VOICES und POWERS), dessen stilistische und inhaltliche Schönheit oftmals zu Tränen rührte. (Allerdings könnte man auch vor Zorn darüber weinen, dass außer DIE WILDE GABE, dem ersten Band der „Anals oft he Western Shore“-Trilogie, keiner ihrer Romane mehr einen deutschen Verlag fand – und über die „Enteignung“ der deutschen Leserschaft durch die misslungene Neuübersetzung von THE DISPOSSESSED.) Das zuletzt erschienene Meisterwerk LAVINIA sollte man sich deshalb unbedingt in der Originalfassung zulegen und lesen. Der literarische Höhepunkt des vergangenen Jahrzehnts!

Gleichfalls überzeugende Leistungen boten Altmeister Dan Simmons, der mit ILIUM und OLYMPOS zwei würdige Nachfolger seiner „Hyperion-Gesänge“ vorlegte und mit TERROR auch Leser außerhalb des Genre-Ghettos erreichte, sowie Elizabeth Moon, deren Buch DIE GESCHWINDIGKEIT DES DUNKELS in derselben Liga wie Daniel Keyes‘ CHARLIE spielt.

Auch zwei amerikanische Nobelpreisanwärter nahmen sich utopisch-phantastischer Themen an und schrieben mit DIE STRASSE (Cormac McCarthy) und GEGEN DEN TAG (Thomas Pynchon) sowohl den düstersten wie den heitersten SF-Text seit Jahren.

Die deutsche Science Fiction zeigte mit DAS CUSANUS-SPIEL von Wolfgang Jeschke und der herausragenden fünfbändigen Jugendbuchreihe um DAS MARSPROJEKT von Andreas Eschbach, dass sie durchaus auf Weltniveau mithalten kann, wenngleich die großen Bestseller DER SCHWARM und LIMIT aus der Feder von Frank Schätzing stammten. Als singuläre Figur im deutschen Literaturbetrieb, gleichermaßen herausragend als Erzähler und Illustrator, erwies sich erneut Walter Moers, der unbeeindruckt von allen Trends und Moden einige wunderschön gemachte Werke vorlegte, von denen DIE STADT DER TRÄUMENDEN BÜCHER in unserem Herzen den höchsten Rang einnimmt.

Das schnelllebige Comic-Geschäft erlebte mit den Gesamtkunstwerken über die Abenteuer der LEAGUE OF EXTRAORDINARY GENTLEMEN, geschaffen von Alan Moore und Kevin O’Neill, einen neuen Höhepunkt. Die gesteigerte Wertschätzung des Genres zeigt sich wohl am Deutlichsten in den sogenannten „Absolute Editions“, großformatigen Sammelausgaben in exzellenter Qualität, deren bisherige „Nummer Eins“ die auf einhundert Exemplare limitierte Vorzugsausgabe von Frank Millers und Dave Gibbons‘ unterschätztem Klassiker THE LIFE AND TIMES OF MARTHA WASHINGTON IN THE TWENTY-FIRST CENTURY ist.




Neue Freunde



Die ständige, seit Jahrtausenden wiederkehrende Klage „o tempora o mores“ gehört zwar zu den grundlegenden Mythen unserer Existenz, verliert jedoch einiges an Berechtigung, wenn man sich einmal ansieht, was „der Nachwuchs“ in den letzten zehn Jahren vorgelegt hat.

In Deutschland gelang es vor allem Dietmar Dath sich einen Namen zu machen. Der „Hansdampf in allen Gassen“ überzeugte als Journalist, Kulturkritiker, Erzähler und Romancier zuletzt mit seinem postapokalyptischen Roman DIE ABSCHAFFUNG DER ARTEN.

Jung, frech, weiblich: Mit Juli Zeh betrat dann auch endlich wieder einmal eine Frau die Szene und traute sich, mit ihrem vom Theaterstück zum Roman weiterentwickelten CORPUS DELICTI, in Konkurrenz zu den „Übervätern“ Huxley, Samjatin und Orwell zu treten.

Teilweise überwältigende Lese-Erfahrungen brachten die Romane von Nick Harkaway (DIE GELÖSCHTE WELT), Michael Chabon (DIE VEREINIGUNG JIDDISCHER POLIZISTEN), China Miéville (PERDIDO STREET STATION), Audrey Niffenegger (DIE FRAU DES ZEITREISENDEN), Kazuo Ishiguro (ALLES, WAS WIR GEBEN MUSSTEN), Charles Stross (ACCELERANDO), Sergej Lukianenko (SPEKTRUM) und Alma Alexander (DIE DRACHENKAISERIN). Während einige dieser neuen Sterne sich vermutlich als kurzlebige Supernovae erweisen werden, sind andere vom Fixsternhimmel der Science Fiction schon nicht mehr wegzudenken.

Im Bereich der grafischen Literatur erwies sich die nur langsam voranschreitende Erzählung um die Einwohner von ASTRO CITY, geschrieben von Kurt Busiek und gezeichnet von Brent Eric Anderson, als überzeugendste Comicserie, dicht gefolgt von den märchenhaften Geschichten der FABLES, für die Bill Willingham verantwortlich zeichnet. Das meiste Vergnügen bereitete jedoch die Entdeckung des Allround-Talents Shaun Tan. Seine bisher erschienenen drei Bücher DIE FUNDSACHE, EIN NEUES LAND und GESCHICHTEN AUS DER VORSTADT DES UNIVERSUMS kann man einfach nur als genial bezeichnen.




Da war doch noch was …



Nicht nur TEMPORAMORES verlagerte sich im 3. Jahrtausend zügig ins Virtuelle, auch die meisten anderen Druckmedien und Verlage sind mehr oder weniger im Internet präsent. Besonders erfolgreich war unsere Zusammenarbeit mit dem „Literaturzirkel Belletristik, Science Fiction und Fantasy“ (www.literaturzirkel.eu), auf dessen Seiten nicht nur unsere Rezensionen, sondern auch Artikel und Kurzgeschichten veröffentlicht werden.

Bei den immer noch in Papierform erscheinenden Magazinen schaffte es die von Klaus Bollhöfener entwickelte „phantastisch!“ (www.phantastisch.net, Verlag Achim Havemann) von der Beilage eines Club-Magazins zur erfolgreichen Eigenständigkeit zu gelangen und seit zehn Jahren in schöner Regelmäßigkeit jedes Quartal eine interessierte Leserschaft zu erfreuen.

Und – last but not least – muss an dieser Stelle natürlich an unsere Freunde und Förderer (ja, die drei bisherigen TEMPORAMORES-Sonderbände sind nicht einfach vom Himmel gefallen!) von HERMKES ROMAN-BOUTIQUE (www.comicdealer.de) gedacht werden. Ohne Hermke, Gerd und Bernie wäre diese Erfolgsgeschichte niemals geschrieben worden. DANKE!

 

Unser größter Dank jedoch geht an alle Leserinnen und Leser dieser Seiten.

 

Wir werden auch in Zukunft fleißig weitersammeln und lesen, was der unendliche Kosmos an Phantastischem über unsere Häupter ausgießt. Sicherlich sind auch in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren wieder neue Bücher, Comics, Filme, Hörspiele, Zitate (und was dergleichen mehr ist) zu entdecken und für Sie/Euch im Newsletter vorzustellen. Und solange das alles weiterhin so richtig Spaß macht,

ist das noch lange nicht das …

Ende




Zurück

Next