Das Darwin-Gedächtnis-Jahr ist zwar schon wieder Schnee von
gestern, dennoch sollte man bei der Lektüre von China Miévilles neuem, 730 Seiten
starken Roman DER KRAKE (Bastei Lübbe, ISBN
978-3-404-20560-8) hin und wieder auch an den Gottvater der Evolution und seine
bahnbrechenden Forschungen denken. Immerhin geht es um einen aus dem Darwin-Center
(!) geklauten Riesen-Tintenfisch, dessen präparierter Körper von
allen kriminellen, spirituellen und magischen Kräften Londons mit
gnadenloser Unerbittlichkeit gesucht wird. Das ruft natürlich die Polizei
auf den Plan – was in diesem speziellen Fall bedeutet, dass sich die drei
Mitglieder einer sehr speziellen Sekten-Behörde gegen eine schier
unüberschaubare Menge an Killern, Zaubereren, Möchtegern-Propheten, Londonmantikern, Kunsterern, Teuthisten und ähnlichem Kroppzeug durchsetzen
müssen. Als störendes Moment gibt es dann noch den armen Billy Harrows, der es innerhalb kürzester Zeit schafft, dass
wirklich alle auf einmal hinter ihm her sind. Seine einzige Unterstützung
erfährt er von einem ausgestoßenen Mitglied der Kraken-Sekte und dem
Streikführer der UMA (der „Union der magischen Assistenten“).
Und während schließlich jeder jeden jagt und keiner mehr weiß,
was eigentlich los ist, treibt London im Schatten des großen Architeuthis auf
die Apokalypse zu …
Miévilles Geschichte sprudelt wieder einmal über vor
Ideen, Sprachbildern, Wortneuschöpfungen und ironischen Seitenhieben.
Neben seinem geliebten London und seiner bekannt-engagierten Einstellung
zu sozialen Problemen thematisiert Miéville auch jede Menge
populärer Mythen wie TV-Serien, Science-Fiction-Literatur und Independent-Music.
Viel Spaß also bei der Lektüre – und beim nächsten Besuch
im Griechischen Restaurant (Calamaris, frittiert!).
„The same procedure
as every year?“ – Oh, yes, my Dear! DAS SCIENCE FICTION JAHR 2011 (Heyne, 1300 Seiten, ISBN
978-3-453-53379-0), wie immer herausgegeben von Sascha Mamczak und Wolfgang Jeschke, diesmal unterstützt von Sebastian Pirling, hat es erneut
geschafft, die verlagsinternen Kontrollinstanzen zu umschiffen und ist soeben
„vom Stapel gelaufen“. Wie immer gilt: Unentbehrlich für
jeden, der wissen will, was im letzten Jahr alles an ihm vorbeigegangen ist.
Zusätzlich gibt es ein klug zusammengestelltes Schwerpunktthema: die
„Future History“. Beiträge von John Clute,
Stephen Baxter, Karsten Kruschel, Erik Simon, Karlheinz Steinmüller und vielen
anderen geben einen schönen Überblick über diese interessante
Sparte der SF. Ausführliche Interviews gibt es mit Peter Watts, Adam Roberts und Harald
Lesch. Die Artikel beschäftigen sich mit allen literarischen und
medialen Aspekten der Phantastik und der ihr verwandten Wissenschaften, dazu
gibt es jede Menge Statistik (der gute Hermann
Urbanek leistet wieder einmal Unglaubliches) und viele Buchbesprechungen.
Hoffen wir also, dass es auch 2012 wieder heißt: „The same procedure as every year!“
„Es waren nicht die
Fantasy-Geschichten, die die meisten Kunsterer
inspirierten … Nein, sie ließen sich von Science Fiction
beeinflussen.“
China Miéville – DER KRAKE (S. 336)