TEMPORAMORES - Newsletter # 234 - 14.6.2015



Wolfgang Jeschke (1936 – 2015)



„Geben Sie acht auf Ihre Nase“ – diesen väterlichen Rat erhielt ich von Wolfgang Jeschke, nachdem ich 1996 wohl etwas zu forsch in einem „Offenen Brief“ eine Neuausgabe von Kurd Laßwitzens Roman AUF ZWEI PLANETEN gefordert und flapsig hinzugesetzt hatte, dass ich damit unter Umständen beim Heyne Verlag „offene Türen“ einrennen würde. Diese gab es, laut Jeschke, aber nicht, deshalb: siehe oben. Auch bei den wenigen später noch erfolgten persönlichen Begegnungen vermittelte Wolfgang Jeschke mit ruhiger Gelassenheit diese Mischung aus väterlicher Strenge und ironischem Abstand – sicherlich nicht die schlechteste Möglichkeit mit vorlauten Fans oder quengelnden Autoren umzugehen. Gleichzeitig war er jedoch immer voller Interesse an seinem Gegenüber, bereit zuzuhören und Argumente anzuerkennen, wenn sie stimmig und begründet waren.

Wolfgang Jeschke kam am 19. November 1936 in Tetschen (damals Tschechoslowakei, heute Tschechische Republik) zur Welt, wuchs nach der Vertreibung seiner Familie in Asperg bei Ludwigsburg auf, absolvierte nach der mittleren Reife 1953 eine Werkzeugmacherlehre und war im Maschinenbau tätig. Bis 1959 holte er das Abitur nach, um dann Germanistik, Anglistik und Philosophie an der Universität München zu studieren. In dieser Zeit vermittelte ihm ein Praktikum in der C. H. Beck’schen Verlagsbuchhandlung erste Einblicke ins Verlagswesen.

Als begeisterter Leser utopisch-phantastischer Literatur fand Jeschke zudem in Münchens großer und aktiver Science-Fiction-Szene schnell Gleichgesinnte und veröffentlichte erste Texte in Fanzines und Anthologien.

Für einige Jahre arbeitete Jeschke dann als Redakteur im Kindler Verlag, wo er unter anderem für KINDLERS LITERATURLEXIKON zuständig war. Ab 1970 betreute er bei Lichtenberg die Reihe „science fiction für kenner“ – als deren dritter Band unter dem Titel DER ZEITER seine erste eigene Sammlung mit Kurzgeschichten erschien. Seit 1972 arbeitete Jeschke auch für den Heyne Verlag. 1977 wurde er dann zusammen mit Herbert W. Franke Redakteur und Lektor der Reihe „Heyne Science Fiction“. Zwischen 1979 und 2001 war er dort alleinverantwortlich und machte Heyne zu einem der weltweit führenden Verlage im Science-Fiction-Geschäft. Neben seiner Rolle als Redakteur entwickelte sich Jeschke vor allem zum Herausgeber von Sammelbänden und war Initiator von wichtigen Reihen. So erschienen seit 1970 unter seiner Regie weit über einhundert Sammelbände mit Kurzgeschichten sowie die Reihen SCIENCE FICTION STORY READER, HEYNE SCIENCE FICTION MAGAZIN und, seit 1986, DAS SCIENCE FICTION JAHR. Zu einem Meilenstein wurde das 1980 in zwei Bänden erschienene LEXIKON DER SCIENCE FICTION LITERATUR, das 1988 noch eine „erweiterte und aktualisierte Neuausgabe in einem Band“ erfuhr.

Glücklicherweise fand Wolfgang Jeschke neben dieser immensen Arbeit immer wieder Zeit, eigene Texte zu verfassen. So erschienen im Lauf der Zeit die Romane DER LETZTE TAG DER SCHÖPFUNG (1981), OSIRIS LAND (1986), MIDAS ODER DIE AUFERSTEHUNG DES FLEISCHES (1989), MEAMONES AUGE (1994), DAS CUSANUS-SPIEL (2005) und zuletzt 2013 DSCHIHEADS. Dazu schrieb er mehr als zwei Dutzend Erzählungen, immer wieder auch Gedichte und eine Handvoll phantastischer Hörspiele.

Übersetzungen seiner Texte erschienen in England, Frankreich, den USA, der Tschechei, in Italien, Polen, Spanien, Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Er wurde zweimal für den Nebula Award nominiert und 1992 mit dem italienischen Premio Futuro Europa ausgezeichnet. Für sein Lebenswerk wurde er 1999 mit dem französischen Prix Utopia ausgezeichnet. Die deutschen Fans verliehen ihm 18 Mal den Kurd-Laßwitz-Preis sowie fünf Mal den Deutschen Science Fiction Preis.

Gestorben ist Wolfgang Jeschke jetzt am 10. Juni 2015 in München. Und während Johnny Cash zum wiederholten Mal „Hurt“ singt, kommt die Erinnerung wieder: an den Mann, der die Science Fiction in Deutschland praktisch im Alleingang „hoffähig“ gemacht hat, an den Mann mit dem freundlichen Lächeln, an einen nach schönen und guten (und gut gemachten) Büchern Verrückten, an eine völlig überraschende, handschriftliche Karte mit versöhnlichen Worten, an die schönste Ausgabe von AUF ZWEI PLANETEN seit einhundert Jahren – an so Vieles, das bleiben wird.

Irgendwie habe ich wohl auf meine Nase nicht genügend acht gegeben – ich muss mich dauernd schnäuzen.

Horst Illmer



Everyone I know
goes away
In the end
.“

 

 

Johnny Cash – „Hurt“

(Trent Reznor / Nine Inch Nails)

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