TEMPORAMORES - Newsletter # 258 - 20.12.2016




KURZMELDUNGEN

Zum Jahresende hier noch einmal ein Alles-Muss-Raus-Newsletter. Ein tiefer Griff in die Kiste mit Neuerwerbungen und Titeln, die bisher nicht so richtig zum Zug gekommen waren.

Beginnen wir mit der soeben neu erschienen Comic-Kurzgeschichten-Anthologie MOUSE GUARD: LEGENDEN DER WÄCHTER – BAND 3 (cross cult, ISBN 978-3-95981-071-5, 140 Seiten, Hardcover), herausgegeben von David Petersen. Bereits zum dritten Mal lädt der Erfinder der „Mäuse-Wache“ Kollegen aus aller Welt ein, Geschichten über tapfere Nagetiere zu erzählen – und zum dritten Mal zeigen Künstler wie Mark Buckingham, Skottie Young oder Dustin Nguyen, dass die Shortstory auch im Comic funktioniert. Lassen Sie sich von den Erzählungen aus dem June Alley Inn verzaubern und bestimmen Sie, welche Geschichte Ihr Herz am meisten rührt.

Neues gibt es auch von Karl-Ulrich Burgdorf zu berichten. Der Autor und Übersetzer hat in den letzten Jahren ein umfangreiches Kurz- und Kürzest-Geschichtenwerk hervorgebracht, aus dem er – ergänzt um einige bisher unveröffentlichte Texte – dreißig Stories ausgewählt und in einem Sammelband zusammengefügt hat. DER SCHÄMS-SCHEUSS-VIRUS UND ANDERE UNWAHRSCHEINLICHE GESCHICHTEN (ISBN 978-3-95627-514-2, 222 Seiten, kartoniert) zeigt die düster-altersweisen Einsichten eines aufmerksamen Jetztzeit-Beobachters und schwarz-humorigen Erzählers. Wer sich für Phantastik aus Deutschland interessiert, sollte unbedingt Mal einen Blick in diese Collection riskieren, die es für „richtige“ Sammler auch als Hardcover gibt.

Zu den Fleißigsten Fränkischen Fantasten zählt seit vielen Jahren unser Schweinfurter Meister-Erzähler Markus K. Korb. Auch 2016 gibt es eine Kurzgeschichtensammlung von ihm, die als „Exklusive Sammlerauflage!“ im Blitz Verlag erschienen ist. XENOPHOBIA enthält 14 Erzählungen über die Angst vor dem „Fremden“ – wobei man sich bei Korb ja immer sicher sein kann, dass das wirklich „Fremde“ vor allem in unseren Köpfen „zuhause“ ist. Ob Horror, Fantasy oder Science Fiction – unabhängig von Genre-Erwartungen zelebriert Korb sein persönliches Vergnügen an Dingen, die bei anderen Menschen Gänsehaut und Schauer erzeugen. Unterstützt wird er dabei von einer Vielzahl begnadeter Künstler, die seine Geschichten kongenial illustrieren. So wird aus diesem 220 Seiten schmalen Taschenbüchlein ein Schmuckstück für die Bibliothek. (Bezug nur direkt über den Verlag möglich.)

Rechtzeitig vor dem Fest haben die großen Verlage nochmal alle Schleusen geöffnet, und so könnten zwei langerwartete Science-Fiction-Romane noch ihren Weg unter den Baum finden: Von der amerikanischen Autorin Connie Willis stammt DUNKELHEIT (cross cult, ISBN 978-3-95981-168-2, 720 Seiten, Klappenbroschur), ein von Claudia Kern übersetzter Zeitreiseroman, der bei seiner Erstveröffentlichung (OT: BLACKOUT) 2010 nicht nur den HUGO Award, sondern auch den NEBULA und den LOCUS Award abräumen konnte. Mehr Leseempfehlung geht eigentlich nicht. Der zugehörige zweite Teil erscheint als LICHT im nächsten Jahr.

Ebenfalls mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde DIE DREI SONNEN (Heyne, ISBN 978-3-453-31716-1, 590 Seiten, Klappenbroschur), die „Sensation aus China“ von Cixin Liu, einem hierzulande noch völlig unbekannten Schriftsteller, der aber in seiner Heimat als derzeit wichtigster SF-Autor gilt. In den USA ist die hoch gelobte Trilogie um das THREE BODY PROBLEM bereits vollständig erschienen, bei uns hat sich Heyne die Rechte gesichert. Vorbildlich ist es, dass man direkt aus dem Chinesischen übersetzen ließ, was Martina Hasse vorzüglich gelungen ist, und nicht auf die US-Übersetzung zurückgegriffen hat. Da es sich um richtig „harten“ Stoff handelt, findet der leicht überforderte Nicht-Physiker bzw. Nicht-Chinese am Ende des Buches einen fast 50 Seiten umfassenden Anhang. Echte Science Fiction aus einem uns überwiegend fremden Sprach- und Kulturraum – unbedingt ansehen!

Und nun zu den Klassikern! Der deutsche Globetrotter, Schriftsteller und Filmemacher Hanns Heinz Ewers (1871–1943) hat in einer beispiellosen, über 40 Jahre andauernden Karriere vieles richtig und eines richtig falsch gemacht. Er glaubte, sich das Wohlwollen der Nationalsozialisten durch einen Eintritt in die Partei sichern zu können, was jedoch gründlich misslang (seine Bücher wurden verboten bzw. nicht mehr aufgelegt) und ihn zudem als Autor über viele Jahrzehnte diskreditierte. Unabhängig von dieser „späten Sünde“ besteht jedoch sein erzählerisches Werk aus einigen der bemerkenswertesten Kurzgeschichten und Romane des 20. Jahrhunderts. Hier ist vor allem die Sammlung DAS GRAUEN zu nennen, deren Auflage die hunderttausend überschritt, sowie der Roman ALRAUNE, der gleich mehrfach verfilmt wurde. Recht unbekannt geblieben ist jedoch sein einziger echter Science-Fiction-Roman, der 1928 erst- und einmalig erschienene und soeben neu aufgelegte FUNDVOGEL (MetaGIS, ISBN 978-3-936438-85-7, 460 Seiten, kartoniert). Diese „Geschichte einer Wandlung“ beschreibt unter anderem eine erfolgreich durchgeführte Geschlechtsumwandlung – und zwar einige Jahre bevor dies tatsächlich möglich war. Ewers hat zum Thema erhebliche und aufwändige Recherchen durchgeführt und bleibt in seiner Erzählung nicht allein bei den medizinischen Einzelheiten im wissenschaftlichen Rahmen, sondern beschreibt auch die psychischen Probleme seiner Protagonisten vor, während und nach einer solchen Operation. Diesen unbekannten Klassiker der deutschen SF wieder zugänglich gemacht zu haben ist kein kleiner Verdienst, dass die Lektorin Maran Alsdorf durch einen umfangreichen Anhang mit Worterklärungen und der Übersetzung fremdsprachlicher Zitate zudem noch erheblich zu dessen Lesbarkeit beiträgt, soll durchaus Erwähnung finden. FUNDVOGEL ist eine Herausforderung, die es Wert ist, angenommen zu werden.

Mit großem Stolz (und vermutlich ein wenig Wehmut) wird Eckart Schott auf die letzten 14 Jahre zurückblicken. Mit dem Band 24 liegt jetzt endlich die große SPIRIT-Gesamtausgabe auf Deutsch vor. Die Reihe WILL EISNERS SPIRIT ARCHIVE begann 2002 in Schotts Verlag Salleck Publications zu erscheinen, übersetzt vom Verleger selbst. Auf mehr als 5.000 Seiten summieren sich die insgesamt 645 Folgen von THE SPIRIT, die im US-amerikanischen Original zwischen dem 2. Juni 1940 und dem 5. Oktober 1952 als Comic-Beilage in vielen Zeitungen veröffentlicht wurden. Welche Bedeutung dieser von Will Eisner geschaffene Comic hat, zeigt sich unter anderem in den Einleitungstexten zu dieser Edition, die von Genre-Größen wie Alan Moore, Frank Miller, Darwyn Cook, Dave Gibbons, Denis Kitchen und Paul Levitz stammen. Die auch handwerklich hervorragend gemachten Hardcover-Bücher mit ihren zweifarbigen Einbanddecken und den bunten Schutzumschlägen (und in der Vorzugsausgabe mit ihren 24 signierten Grafikbeilagen) bilden in Zukunft das Herzstück einer jeden Comic-Sammlung die etwas auf sich hält. Die Normalausgabe ist noch komplett lieferbar, bei der Vorzugsausgabe muss man sich nach den ersten Büchern inzwischen schon intensiv antiquarisch umsehen. Allerdings sind WILL EISNERS SPIRIT ARCHIVE eine Anschaffung fürs Leben!



ZITATE

„Nein, schicken Sie mir bitte nicht Ihr Buch; ich lese keine Bücher, Winzer trinken ja auch Bier. Außerdem kann mich das Jenseits am Arsch lecken; dazu sind sie da, das Jenseits und der Arsch.“

Harry Rowohlt – „An einen Bittsteller“; in: UND TSCHÜS (S. 89)

 

„Erhöhung auf vier Dimensionen erfolgreich abgeschlossen. Sophon 1 erwartet Befehle.“

„> Erhöhe die Anzahl der Dimensionen auf sechs.“

Cixin Liu – DIE DREI SONNEN (S. 522)



Zurück

Next