Mein Schreibtisch quillt über – all die neuen Bücher rufen: „Nimm
mich, lies mich, stell mich Deinen Freunden vor!“ – und wer ist schuld? Na, mal
sehen, ob sich das noch klären lässt.
Zuerst einmal sind natürlich die vielen Leute schuld, die den in
einer Alternativwelt angesiedelten Roman UNDERGROUND RAILROAD (Hanser, ISBN
978-3-446-25655-2, 350 Seiten) von Colson
Whitehead mit dem Pulitzer Preis, dem National Book Award, dem Goodreads
Choice Award und dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet haben. Ganz zu
schweigen von den Journalisten, die sich in der Fachpresse (Locus) und dem Feuilleton (FAZ) fasziniert zeigen von Whiteheads epischer
Beschreibung der Freiheitssuche einer geflohenen Sklavin in einem irrealen
Amerika, das in einer Zeitschleife gefangen scheint, sodass Gegenwart und
Vergangenheit kaum mehr zu unterscheiden sind. Ganz harter Stoff.
Schuld daran, dass ich EINE KURZE GESCHICHTE DER BÖHMISCHEN
RAUMFAHRT (Tropen, ISBN 978-3-608-50377-7, 360 Seiten) von Jaroslav Kalfar mitgenommen habe, ist Peter Alexander, der irgendwann einmal „Wie Böhmen noch bei Österreich
war“ gesungen hat, und mir damit offenbar den posthypnotischen Kaufbefehl einprägte.
Ein tschechischer Science-Fiction-Roman, von einem in die USA ausgewanderten
Prager Jungautor, der Humor und First-Contact-Story vereint. Was will man mehr?
Am Erwerb des in einer nahen Zukunft spielenden Romans AMERICAN
WAR (S.Fischer, ISBN 978-3-10-397319-8, 444 Seiten) von Omar El Akkad ist mein Lieblingsbuchhändler schuld. Der hat das Erstlingswerk
des aus Ägypten stammenden und über Kanada in die USA ausgewanderten Autors, in
dem ein 2075 ausgebrochener Bürgerkrieg die Vereinigten Staaten erneut zu
spalten droht, einfach so platziert, dass ich es in die Hand nehmen musste –
schon war’s passiert.
Ganz doof ist es, wenn ein Verlag meint, dass er mir ein neues
Buch „einfach mal so“ – also unaufgefordert – zusenden muss – und damit auch
noch recht hat! Woher wusste zum Beispiel Sauerländer, dass ich seit Jahren
fasziniert um Lian Hearns Zyklus DER
CLAN DER OTORI rumschleiche und immer nicht weiß, ob ich die fünf Bücher
wirklich brauche. Jetzt, wo ich HERRSCHER DER ACHT INSELN (ISBN
978-3-7373-5466-0, 592 Seiten) hier liegen habe, den ersten Band der LEGENDE
VON SHIKANOKO, erübrigt sich das „Rumschleichen“. Die 300 Jahre vor den
OTORI-Büchern im feudalen Japan angesiedelte All-Age-Geschichte mit Zauberern,
Prinzessinnen und einem geraubten Thronfolger verspricht nicht nur spannende
Unterhaltung, sondern ist auch noch wunderschön aufgemacht.
Und weil wir gerade dabei sind: Schuld daran, dass ich DIE PRÜFUNG
(TOR, ISBN 978-3-596-29757-3, 700 Seiten) von Jay Kristoff als Rezensionsexemplar angefordert habe, sind die
Buchgestalter von TOR Books, die den ersten NEVERNIGHT-Band zu einem
haptisch-visuellen Ereignis gemacht haben. Die Story um ein Mädchen, das Rache
nehmen will und deshalb in den Orden der Assassinen strebt, klingt nicht nur
wegen des „Worldbuilding“ (Welt mit drei Sonnen, beachtenswerte Nomenklatur,
ausgefeiltes Kartenmaterial) interessant, sondern überzeugt auch durch farbig
illustrierte Vorsätze, einen gelungenen Schutzumschlag und einen dreiseitigen
Rotschnitt (der beim ersten Aufblättern gänsehauterzeugend „bricht“).
Selbst Schuld bin ich allerdings an Marco Behringers GREEN AND CLEAN? (Tectum, ISBN 978-3-8228-3929-8,
280 Seiten), einer ausgefeilten Doktorarbeit zum Thema „Alternative
Energiequellen in Science Fiction und Utopie“, denn auf diese
literaturwissenschaftlich-ethnologische Untersuchung habe ich gewartet, seit
ich wusste, dass sie im Entstehen ist. Der Ansatz, sich gezielt mit dem Thema
der utopischen Energiegewinnung und -verarbeitung in Zukunftsromanen zu
beschäftigen ist topaktuell und vielversprechend. Behringer geht dabei
multiperspektivisch vor und untersucht Quellenmaterial aus den letzten zwei
Jahrhunderten, wobei er nicht nur auf Prosatexte eingeht, sondern auch Comics
und Filme hinzu zieht. Die Bandbreite reicht von Jules Verne und H. G. Wells
über Buck Rogers- und Mosaik-Comics bis hin zu Andreas Eschbach und Iron Man-Verfilmungen. Neben zu
erwartenden Autoren wie Hans Dominik
finden sich Überraschungen wie Alfred
Döblin und Paul Gurk und
erfreulich viele Quellen aus der DDR. Hier wurde nicht das Altbekannte
wiedergekäut, sondern intensiv und kenntnisreich geforscht. Bereits die ausführliche
Beschäftigung mit dem Definitionsproblem im ersten Teil zeigt, dass ein Blick
aus der kulturwissenschaftlichen und ethnologischen Perspektive die seit Jahren
lahmende Germanistik mit neuen Ideen weiterbringen kann. Die Folgerungen die
Behringer im Folgenden aus seinen Detailbetrachtungen gewinnt, scheinen
schlüssig und bieten vielfache Anregungen für eine weitere Beschäftigung mit
einem Thema, das trotz der vielen Beispiele noch jede Menge potenzielles
Material bereithält. Wie „grün“ und „sauber“ die Phantastische Literatur ist,
steht noch nicht endgültig fest – aber das Thema in den Fokus gerückt zu haben,
ist das unbestreitbare Verdienst von Marco Behringer.
„Wenn Menschen
sterben, scheißen sie sich oft in die Hosen. Ihre Muskeln erschlaffen, ihre
Seelen flattern befreit davon, und alles andere … rutscht eben einfach so raus.
Das ist eine Tatsache, die Schreiberlinge nur selten erwähnen, so beliebt der
Tod bei ihrem Publikum auch sein mag. Wenn unser Held in den Armen seiner
Heldin sein Leben aushaucht, dann weisen sie nicht unbedingt auf den feuchten
Fleck im Schritt hin oder auf den Gestank, der ihr die Tränen in die Augen
treibt, als sie sich für den letzten Kuss über ihn beugt.“
Jay Kristoff – in: NEVERNIGHT – DIE PRÜFUNG (S. 9)
„Alle drei Pferde senkten den Kopf, und in ihren Augen sammelten sich
Tränen, als weinten sie.“
Lian Hearn – HERRSCHER DER ACHT INSELN (S.578)
„Als ich jung war, sammelte ich Postkarten. Ich fand immer, für
jemanden, der fast sein ganzes Leben damit zubrachte, die Geschichte des
Krieges zu erforschen, waren diese Momentaufnahmen aus einer verklärten,
heiteren Welt ein schönes Gegengewicht, ein Ausgleich.“
Omar El Akkad – AMERICAN WAR (S. 9)
„Das Dunkel kam über mich. Irgendwann erwachte ich von einem ganz
leichten Tippen auf meiner Haut. Auf meinem Unterarm saß der Weberknecht. Ich
strich Nutella auf mein Handgelenk, direkt neben dem Spinnentier. Der
Weberknecht rührte sich nicht. Sein dicker Bauch ruhte auf meinen Armhaaren.“
Jaroslav Kalfar – EINE KURZE GESCHICHTE DER BÖHMISCHEN
RAUMFAHRT (S. 364)
„Als Caesar das erste Mal von einer Flucht in den Norden redete, sagte
Cora nein. Da sprach ihre Großmutter aus ihr. […] Drei Wochen später sagte sie
ja. Diesmal sprach ihre Mutter aus ihr.“
Colson Whitehead – UNDERGROUND RAILROAD (S. 9–15)