TEMPORAMORES - Newsletter # 305 - 6.8.2019




KURZMELDUNGEN

Dass H. G. Wells auch in seinen späten Jahren noch in der Lage war, sehr unterhaltsame Science Fiction zu produzieren, belegt der soeben in der Edition Phantasia erschienene Kurzroman DIE ERSCHEINUNG VON CAMFORD (ISBN 978-3-947122-02-8, 121 Seiten), der im Original erstmals 1937 veröffentlicht wurde. Eines schönen Morgens ertönt im Frühstücksraum der englischen Eliteuniversität Camford die Stimme eines Unsichtbaren, der den Anwesenden allerlei Vorhaltungen über ihre Dummheit macht. Der Sprecher gibt sich im Verlauf des Buches als überdimensionales Wesen zu erkennen, das seit vielen Jahrmillionen das Universum durchstreift und dabei auf die Menschen gestoßen ist und an ihnen Gefallen gefunden hat. Da ihn die Entwicklung beunruhigt, welche die menschliche Gesellschaft in den letzten Jahren genommen hat, versucht er, an der Spitze der Intelligenz-Pyramide ansetzend, herauszufinden, wieso es mit der Bildung, dem Wissen, der Information auf der Erde so schlecht steht. Trotz seiner klugen Fragen und seinem Insistieren auf diesem Problem, beschäftigt es die Menschen jedoch viel mehr, woher die Stimme kommt. Die satirische Erzählung hat bis heute nichts von ihrer Frische und Schärfe verloren und ist eine echte Entdeckung, für die man dem Herausgeber und Übersetzer Joachim Körber nur dankbar sein kann. Der auf 250 Exemplare limitierte Pappband steckt in einem grauen Samtschuber. Der Text wurde von Alexandra F. illustriert und das Nachwort von Horst Illmer bietet weiterführende Informationen. Sehr empfehlenswert.

Kurzer, aber ernst gemeinter Hinweis: Die Dreiviertelhundert-Jubiläumsausgabe Nummer 75 von phantastisch! neues  aus anderen welten (Atlantis) ist erschienen. Unbedingt reinschauen!

Noch ein kurzer, ernst gemeinter Hinweis: Der letzte Roman des englischen New Wave-Miterfinders James Graham Ballard (geschrieben 2006) ist soeben bei Diaphanes unter dem Titel DAS REICH KOMMT (ISBN 978-3-0358-0136-1, 370 Seiten, kartoniert) als deutsche Erstveröffentlichung erschienen. Düster, grausam, voller schwarzem Humor und absolut großartig geschrieben – ein spätes Meisterwerk!

Und zum Schluss noch ein etwas fragwürdiger Hinweis: Die 1982 in den USA geborene, dann aber in Wien aufgewachsene Ann Cotten schreibt, seit sie 2006 ihr Germanistikstudium beendet hat, auf Deutsch Gedichte, Erzählungen und Essays. Seit 2007 hat sie jedes Jahr mindestens ein Buch veröffentlicht und etwa ein Dutzend Preise dafür bekommen. Ihr aktuelles Buch trägt den Titel LYOPHILIA (Suhrkamp, ISBN 978-3-518-42869-6, 463 S.), enthält zwölf Geschichten, die sie selbst als „Science Fiction auf Hegel-Basis“ bezeichnet und ist in einer sehr modernen, kraftvollen und experimentierfreudigen Sprache verfasst. Die Bezüge zwischen „normalem“ Alltag und „echter“ Science Fiction sind hier fließend und spielerisch vermischt. Dazu gibt es eine sehr eigenwillige Neuinterpretation der Wells’schen ZEITMASCHINE. Spannend!



ZITAT

„In den progressiven Teilen dieses Buches wird das sogenannte »polnische« Gendering benutzt: Alle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben kommen in gefälliger Reihenfolge ans Wortende.“

Ann Cotten – LYOPHILIA (S. 4)



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