TEMPORAMORES - Newsletter # 322 - 22.6.2020




KURZMELDUNGEN

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt: Die lang erhoffte Fortsetzung eines literarischen Welterfolgs, von dessen Protagonisten einer den Namen „Snow“ trägt und dessen Titel mit „Das Lied von …“ beginnt – doch nein, es handelt sich „nur“ um DAS LIED VON VOGEL UND SCHLANGE (Oetinger, ISBN 978-3-7891-2002-2, 608 Seiten) von Suzanne Collins und alle George R. R. Martin-Fans können wieder in Ruhestellung gehen. Etwas überraschend erschien soeben der vierte Band der Reihe „Die Tribute von Panem“ und genauso überraschend ist die Wahl des „Helden“, aus dessen Sicht die Vorgeschichte zur Trilogie erzählt wird. Collins lässt uns tief in die Gedanken von Coriolanus Snow blicken, zu einem Zeitpunkt (den 10. Hungerspielen) als dieser noch nicht der furchterregende Gegenspieler von Katniss geworden ist. Eine (vielleicht nicht wirklich notwendige) Ergänzung und Vertiefung des großen Mythos, den sich echte Fans der Hungerspiele nicht entgehen lassen sollten.

Auch beim nächsten Buch könnte man allerlei Überlegungen zum Titel anstellen, aber was den Verlag letztlich zu AM ANFANG WAR DER BEUTEL (thinkOya, ISBN 978-3-947296-08-8) inspirierte ist mir, ehrlich gesagt, wurscht. Hauptsache ist doch, dass es ein neues Buch von Ursula K. Le Guin auf den deutschen Markt geschafft hat! Das knapp 100 Seiten umfassende Taschenbuch enthält sechs Essays und ein Gedicht Le Guins sowie ein Vorwort des Verlegers und Übersetzers Matthias Fersterer, in dem er erklärt, „warum es lohnend ist“, Le Guins Werke zu lesen. Die Auswahl ist insoweit „zeitgemäß“ als es sich überwiegend um Texte handelt, die sich mit utopisch-politischem Denken befassen – und die Ökologie gehört bei Le Guin sowieso immer dazu. Wer also wissen will, „warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft“ (so der Untertitel), findet hier zwar keine Antworten, aber jede Menge anregender Ideen.

Im Hirnkost Verlag, der zuletzt durch die „Rettung“ des Jahrbuchs DAS SF JAHR 2019 positiv aufgefallen ist, erschien soeben eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Anthologie mit über zwanzig tollen neuen Science-Fiction-Stories: DER GRÜNE PLANET (ISBN 978-3-948675-15-8, 288 Seiten) wurde von René Moreau und Hans Jürgen Kugler herausgegeben und zeigt sich auch graphisch-haptisch von einer herausragenden Qualität. Insgesamt 23 deutschsprachige Autor*innen steuerten ihre Geschichten bei, in denen es vor allem um den „Klimawandel“ und seine Folgen geht. In vier Abteilungen erfährt die Leser*in mehr darüber, wie die Zukunft nach der Apokalypse aussieht, oder wie es wäre, wenn wir dem Schicksal nochmal ein Schnippchen schlagen könnten, bzw. wie man sich mit dem ganzen arrangiert – oder ob es nicht sogar möglich ist, die Sache von einer völlig anderen Warte aus zu betrachten. Die Autor*innen gehören überwiegend zu den „alten Füchs*innen“ der Szene und liefern absolut lesenswerte Geschichten ab – wie z. B. unser „Local Hero“ Christian Endres mit „Der Klang des sich lichtenden Nebels“, einer Story, die sich auch gut zum Testlesen eignet. Das großformatige Hardcover selbst enthält 25 farbige Bilder von Uli Bendick und ist auf schwerem Hochglanzpapier gedruckt. Wer sich für Kurzgeschichten erwärmen kann und noch nicht zu abgestumpft für das Thema Umwelt ist, sollte unbedingt mal in DER GRÜNE PLANET reinlesen.

Kennen wir das nicht alle: Da haben wir, nach intensiver Prüfung (oder nach einem schnellen Blick), etwas (Bücher, CDs, Klamotten) im Internet bestellt – und dann beginnt das endlose WARTEN! Die Zeiten des allmorgendlich-pünktlichen „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ sind ja eh schon länger vorbei, aber auch in unserer von multiplen Post- und Paketdiensten versorgten Gegenwart gibt es noch Gewissheiten: Das mit Spannung erwartete Paket kommt immer am nächsten Tag (oder dann, wenn wir gerade mal nicht da sind). Da trifft es sich ganz prima, dass der Frankokanadier Guillaume Perreault eine wunderschöne Graphic Novel geschrieben und gezeichnet hat, die einmal die „andere“ Position darstellt. In THE POSTMAN FROM SPACE (Holliday House, ISBN 978-0-8234-4519-6) / DER WELTRAUMPOSTBOTE (Rotopol, ISBN 978-3-96451-017-4) begleiten wir Bob während eines (nicht ganz so) normalen Arbeitstags als intergalaktischer Zusteller. Als besagter Bob zu Schichtbeginn vom „Boss“ erfährt, dass seine Standardroute an jemand anderes übergeben wurde und er heute eine komplett neue Route fliegen muss, hat er sogleich ein ungutes Gefühl. Zwar sind es „nur“ fünf Abliefer-stellen – aber für Bob entwickelt sich jede davon zu einer existentiellen Herausforderung. Zum Schichtende erwartet ihn dann die überraschend gestellte Frage: Zurück zum Altbekannten – oder morgen wieder was Neues? Nachdem wir auf fast 150 Seiten miterlebt haben, wie Bob auf ungewöhnliche Herausforderungen reagiert, schafft er es tatsächlich, uns auf der allerletzten Seite noch einmal so richtig zu überraschen. Und wenn wir in Zukunft wieder einmal auf unsere „Verspätungskünstler“ schimpfen wollen, oder über den Zustand, in dem eine Sendung bei uns angekommen ist, sollten wir uns an Bob, den WELTRAUMPOSTBOTEN / POSTMAN FROM SPACE zurückerinnern. Jede Medaille hat zwei Seiten!

Aus der allwöchentlichen Flut neuer DC/Marvel-Comics stechen immer seltener Titel heraus, denen ich das Potenzial zutraue, meine Sammlung sinnvoll zu ergänzen. Vermutlich waren es die Namen von Autor Scott Snyder und Zeichner Greg Capullo, die mich bei BATMAN – DER LETZTE RITTER AUF ERDEN (Panini, ca. 200 Seiten, Soft- und Hardcover) zugreifen ließen. Und tatsächlich hat mich dieses postapokalyptische Zukunftsmärchen überzeugt. Die Story hat allerlei Sprünge, Wendungen und Überraschungen, bezieht einen Großteil des alten und aktuellen DC-Universums ein, stellt Helden wie Schurken vor unerwartete Herausforderungen und spart nicht mit schwarzem Humor. Nach SUPERMAN – DAS ERSTE JAHR ist dies der zweite Titel aus der neuen DC-Black Label-Reihe den ich gelesen habe – und auch hier hatte ich viel Spaß. Mal sehen, was da noch kommt …

Zum Schluss noch etwas Schönes und Lustiges für die Anhänger von Zeitungscomics: Volker Reiche hat seine 2018 und 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Frankfurter Allgemeinen Woche erschienenen STRIZZ-Comicstrips gesammelt unter dem Titel STRIZZ – FRISCHE LUFT (Kult Comics, ISBN 978-3-96430-090-4, 140 Seiten) veröffentlicht. Der Band ist durchgängig vierfarbig und enthält das 16. und 17. Jahr dieser langlebigen Serie, in der Reiche uns nicht nur am Geschäfts- und Familienleben des Titelhelden (und seiner Haustiere) teilhaben lässt, sondern zugleich auch immer politische und sportliche Großereignisse kommentierend belgeitet. Und auch wenn’s manchmal schmerzt (wie bei der Fußball-WM 2018), überwiegen doch die positiven Erinnerungen, die durch die gezeichneten „Snapshots“ auf unseren inneren „Flatscreens“ ablaufen. Das querformatige, auf 500 Stück limitierte Hardcover ist auf bestem Papier gedruckt, fadengeheftet, mit einem signierten EX LIBRIS getrüffelt und steckt in einem illustrierten Schuber.



ZITATE

„Von allem, was täglich für die Vergessenheit geschrieben wird, ist ihr am sichersten der Müll zeitgenössischer Buchbesprechungen verfallen …“

Arno Schmidt – Antwort auf eine Umfrage; in: SUPPLEMENTE 2 (S. 206)



„Snow landet immer oben.“

Suzanne Collins – DAS LIED VON VOGEL UND SCHLANGE (S.604)



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