TEMPORAMORES - Newsletter # 338 - 28.3.2021




KURZMELDUNGEN

Noch ist es nicht soweit, aber der französische Bibliophile und Verleger Octave Uzanne hat es bereits 1894 vorhergesehen: DAS ENDE DER BÜCHER (Favoriten Presse, ca. 60 Seiten, Hardcover) steht bevor. In der kurzen Erzählung, die in einer Anthologie für Bücherliebhaber erschien, nahm sich Uzanne die Freiheit und spekulierte darüber, wie die Erfindungen Thomas Alva Edisons und anderer den Umgang der Menschen mit den von Autoren erzählten Geschich­ten verändern würden. Damals waren die ersten Tonwalzen in Umlauf, auf denen kurze Text- oder Musikstücke aufgezeichnet wurden, die dann immer wieder abgespielt werden konnten. Daraus entwickelt sich bei Uzanne eine völlig neue Industrie, die das gedruckte Buch verdrängt und alle neuen Werke in Form preiswerter Tonträger für die ehemaligen Leser (die nun zu Hörern werden) zur Verfügung stellt. Selbst den Walkman gibt es in Uzannes Vorstellung schon, ebenso eine Frühform des öffentlichen Rundfunks! Glücklicherweise, so erklärt es Prof. Dr. Jochen Hörisch in seinem Nachwort, hat es sich gezeigt, dass neue Erfindungen das Altbewährte nur teilweise ersetzen, und so können wir Heutigen diese hübsche (und liebevoll von Steph von Reiswitz illustrierte) Proto-Science-Fiction-Geschichte immer noch in gedruckter Form genießen. Selbstverständlich gibt es DAS ENDE DER BÜCHER auch als Hörbuch (bei Argon).

Es ist wieder einmal eine rechte Freude, die neue EXODUS (Heft 42, 110 Seiten) aus dem Briefkasten zu fischen und schon beim Umschlagbild zu genießen, dass es die Truppe um René Moreau immer aufs Neue schafft, außergewöhnliche Künstler aufzutun und vorzustellen. Diesmal gibt es ein umlaufendes Cover von Simon Lejeune, einem belgischen Maler, den Uwe Anton dann in der „Galerie“ ausführlich vorstellt. Das dutzend Kurzgeschichten im Heft stammt diesmal recht ausgewogen von Autorinnen und Autoren (u. a. von Nicole Rensmann und Christian Endres), die Illustrationen schufen jedoch mit Ausnahme von Gabriele Behrend durchweg die „Hauskünstler“, allen voran der unermüdliche Mario Franke. Cartoons und Lyrik-Schnippsel runden den gewohnt vortrefflichen Gesamteindruck ab.

Die Kunstform des sequenziellen Erzählens – allgemein als „Comic“ bekannt – entwickelte ihre Massenwirksamkeit Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts parallel zum Siegeszug der Zeitungen und Zeitschriften, in denen sie von Beginn an Teil der Erfolgsgeschichte waren. Als in den 1930er Jahren daraus die eigenständige Form der Comic-Hefte entstand, gehörte Will Eisner (1917–2005) zu den „Paten“ (engl. „Godfather“) dieser zuerst ungeliebten Ableger der später so genannten „neunten Kunst“. Und als 1978 mit A CONTRACT WITH GOD (dt. als EIN VERTRAG MIT GOTT) die erste „Graphic Novel“ als Buch in einem Literaturverlag den Anspruch erhob, ernstzunehmende Literatur darzustellen, hob derselbe Will Eisner damit ein seither immer wirkmächtigeres und beliebteres Genre aus der Taufe. Deshalb ist der Titel von Alexander Brauns Biografie WILL EISNER – GRAPHIC NOVEL GODFATHER (Avant) gut gewählt. In diesem riesenformatigen, kiloschweren Prachtband wird Eisner anhand seiner Werke porträtiert. Braun beschreibt Eisners außergewöhnlichen Lebensweg in zwölf Kapiteln, die von seinen frühesten Versuchen über erste Erfolge, die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die anschließende Arbeit für die US-Army, bis hin zum gefeierten Comeback und der späten Beschäftigung mit den jüdischen Wurzeln reichen. Dazu gibt es ein ausführliches Interview mit Eisners Freund und Verleger Denis Kitchen sowie ein Kurzporträt von Eisner Gattin Ann, ein Werkverzeichnis und eine Auswahlbibliografie. Das fast 400 Seiten umfassende Kompendium dient gleichzeitig als Katalog zu einer derzeit in Dortmund stattfindenden Ausstellung, die dann im nächsten Jahr zum Internationalen Comic Salon nach Erlangen wandert. Sicherlich gehört ein Besuch dort zu den Pflichtveranstaltungen für Alle, die sich für Comics interessieren – die Zeit bis dahin aber kann man sich nicht schöner vertreiben als mit dem Blättern, Stöbern und Schmökern in WILL EISNER – GRAPHIC NOVEL GODFATHER!

So weit ist es also gekommen: Jetzt müssen schon nach England ausgewanderte Akademiker auf Englisch über die Geschichte der Science Fiction in Deutschland schreiben! (Zwinker). Damit gemeint ist BEYOND TOMORROW (Camden House) von Professor Ingo Cornils, das bereits 2020 erschienen ist. Seine Studie trägt den Untertitel „German Science Fiction and Utopian Thought in the 20th and 21st Century“ und beschäftigt sich mit dem, was in Deutschland abwechselnd „Zukunftsroman“, „wissenschaftlich-technische Erzählung“, „utopisch-phantasti­sche Literatur“ und seit etwas mehr als einem halben Jahrhundert „Science Fiction“ genannt wird. (Wobei Cornils von Beginn an darauf hinweist, dass er die gleichzeitig entstandenen Filme mit einbezieht.) Anhand einer begrenzten, aber wohlerwogenen, Textauswahl nimmt Cornils die in den letzten 125 Jahren entstandenen Zukunftserzählungen unter die Lupe und untersucht sie auf Inhalt, Stil, Ideengehalt und Eigenständigkeit hin, vergleicht sie mit der zeitgleichen „normalen“ Literatur und der seit zirka 1930 dominanten englischsprachigen Science Fiction. Cornils beginnt erwartungsgemäß bei Kurd Laßwitz, nimmt Paul Scheerbart und Bernhard Kellermann hinzu, schaut kurz auf Hans Dominik und die „Exoten“ Alfred Döblin, Ri Tokko und Werner Illing, bevor er die Nachkriegszeit mit ihren Spitzenleistungen von Hermann Hesse, Ernst Jünger und Arno Schmidt beleuchtet. Soweit, so gut. Spannend wird es dann im weiteren Verlauf, wo sich Cornils als echter Kenner erweist. Von den etwas mehr als siebzig Titeln seiner „Chronological List of German SF Novels“ sind fast fünfzig nach dem Jahr 2000 erschienen. (Selbst mir waren einige dieser Titel entgangen!) Dabei kommen Bestseller-AutorInnen wie Juli Zeh, Frank Schätzing, Dietmar Dath, Andreas Eschbach, Tom Hillenbrand oder Marc-Uwe Kling ebenso zum Zug wie die noch unbekannteren Joachim Zelter, Florian Felix Weyh, Richard M. Weiner, Theresa Hannig oder Bijan Moini. Gleiches gilt für die Regisseure, von Fritz Lang, Rainer Werner Fassbinder und Werner Herzog bis Philip Koch, Stefan Ruzowitzky und Sebastian Hilger. In seiner „Conclusion“ zieht Cornils das Fazit, dass die SF in Deutschland, nach einem furiosen Auftakt, während der Nazizeit den Anschluss verloren hat. Inzwischen hat sich eine eigenständige, auf dem „utopischen Denken“ basierende, phantastische Literatur deutscher Ausprägung etabliert, die dabei ist, internationales Niveau zu erreichen. Größtes Hindernis dabei ist derzeit die „Berührungsangst“ vieler Akademiker und Intellektueller.



ZITATE

„Bibliophile werden zu Phonographophilen, die rare Aufnahmen sammeln. Sie werden ihre Zylinder, wie ehedem Bücher, in goldverzierte Lederetuis mit symbolischen Ornamenten binden lassen. Auf den Etuis sind die Titel zu lesen, und die kostbarsten Exemplare sind Zylinder mit einmaligen Aufnahmen der Stimme eines Meisters der Theater-, Dicht- oder Tonkunst oder mit unerwarteten oder unveröffentlichten Varianten eines berühmten Werkes.“

Octave Uzanne DAS ENDE DER BÜCHER



„Diesen Abend war ich mit Lorena ausgegangen. Sie sah toll aus [und] war in ihrer üblichen Stimmung, aus dem üblichen Grund. Sie wollte […] einen Ehevertrag für fünf Jahre mit mir unterschreiben. Bei dem Vorschlag blieb ich so kalt wie der Grabstein eines Eskimos.“

Keith Laumer – „Die Bodybuilder“ (1968/1976);

in: DER KRIEG GEGEN DIE YUKKS (S.7);

Terra Taschenbuch 273;

Übersetzung von Jürgen Saupe



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