Noch ist es nicht soweit, aber der
französische Bibliophile und Verleger Octave
Uzanne hat es bereits 1894 vorhergesehen: DAS ENDE DER BÜCHER (Favoriten
Presse, ca. 60 Seiten, Hardcover) steht bevor. In der kurzen Erzählung, die in
einer Anthologie für Bücherliebhaber erschien, nahm sich Uzanne die Freiheit
und spekulierte darüber, wie die Erfindungen Thomas Alva Edisons und anderer den Umgang der Menschen mit den von
Autoren erzählten Geschichten verändern würden. Damals waren die ersten
Tonwalzen in Umlauf, auf denen kurze Text- oder Musikstücke aufgezeichnet
wurden, die dann immer wieder abgespielt werden konnten. Daraus entwickelt sich
bei Uzanne eine völlig neue Industrie, die das gedruckte Buch verdrängt und
alle neuen Werke in Form preiswerter Tonträger für die ehemaligen Leser (die
nun zu Hörern werden) zur Verfügung stellt. Selbst den Walkman gibt es in
Uzannes Vorstellung schon, ebenso eine Frühform des öffentlichen Rundfunks!
Glücklicherweise, so erklärt es Prof.
Dr. Jochen Hörisch in seinem Nachwort, hat es sich gezeigt, dass neue
Erfindungen das Altbewährte nur teilweise ersetzen, und so können wir Heutigen
diese hübsche (und liebevoll von Steph
von Reiswitz illustrierte) Proto-Science-Fiction-Geschichte immer noch in
gedruckter Form genießen. Selbstverständlich gibt es DAS ENDE DER BÜCHER auch
als Hörbuch (bei Argon).
Es ist wieder einmal eine rechte Freude,
die neue EXODUS (Heft 42, 110 Seiten)
aus dem Briefkasten zu fischen und schon beim Umschlagbild zu genießen, dass es
die Truppe um René Moreau immer aufs
Neue schafft, außergewöhnliche Künstler aufzutun und vorzustellen. Diesmal gibt
es ein umlaufendes Cover von Simon
Lejeune, einem belgischen Maler, den Uwe
Anton dann in der „Galerie“ ausführlich vorstellt. Das dutzend
Kurzgeschichten im Heft stammt diesmal recht ausgewogen von Autorinnen und
Autoren (u. a. von Nicole Rensmann
und Christian Endres), die
Illustrationen schufen jedoch mit Ausnahme von Gabriele Behrend durchweg die „Hauskünstler“, allen voran der
unermüdliche Mario Franke. Cartoons
und Lyrik-Schnippsel runden den gewohnt vortrefflichen Gesamteindruck ab.
Die Kunstform des sequenziellen Erzählens
– allgemein als „Comic“ bekannt – entwickelte ihre
Massenwirksamkeit Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts parallel zum Siegeszug
der Zeitungen und Zeitschriften, in denen sie von Beginn an Teil der
Erfolgsgeschichte waren. Als in den 1930er Jahren daraus die eigenständige Form
der Comic-Hefte entstand, gehörte Will
Eisner (1917–2005) zu den „Paten“ (engl. „Godfather“) dieser zuerst ungeliebten
Ableger der später so genannten „neunten Kunst“. Und als 1978 mit A CONTRACT
WITH GOD (dt. als EIN VERTRAG MIT GOTT) die erste „Graphic Novel“ als Buch in
einem Literaturverlag den Anspruch erhob, ernstzunehmende Literatur
darzustellen, hob derselbe Will Eisner damit ein seither immer wirkmächtigeres
und beliebteres Genre aus der Taufe. Deshalb ist der Titel von Alexander Brauns Biografie WILL EISNER
– GRAPHIC NOVEL GODFATHER (Avant) gut gewählt. In diesem riesenformatigen,
kiloschweren Prachtband wird Eisner anhand seiner Werke porträtiert. Braun
beschreibt Eisners außergewöhnlichen Lebensweg in zwölf Kapiteln, die von
seinen frühesten Versuchen über erste Erfolge, die Zeit des Zweiten Weltkriegs
und die anschließende Arbeit für die US-Army, bis hin zum gefeierten Comeback
und der späten Beschäftigung mit den jüdischen Wurzeln reichen. Dazu gibt es
ein ausführliches Interview mit Eisners Freund und Verleger Denis Kitchen sowie ein Kurzporträt von
Eisner Gattin Ann, ein
Werkverzeichnis und eine Auswahlbibliografie. Das fast 400 Seiten umfassende
Kompendium dient gleichzeitig als Katalog zu einer derzeit in Dortmund
stattfindenden Ausstellung, die dann im nächsten Jahr zum Internationalen Comic
Salon nach Erlangen wandert. Sicherlich gehört ein Besuch dort zu den
Pflichtveranstaltungen für Alle, die sich für Comics interessieren – die Zeit
bis dahin aber kann man sich nicht schöner vertreiben als mit dem Blättern,
Stöbern und Schmökern in WILL EISNER – GRAPHIC NOVEL GODFATHER!
So weit ist es also gekommen: Jetzt müssen
schon nach England ausgewanderte Akademiker auf Englisch über die Geschichte
der Science Fiction in Deutschland schreiben! (Zwinker). Damit gemeint ist
BEYOND TOMORROW (Camden House) von Professor Ingo Cornils, das bereits 2020 erschienen ist. Seine Studie trägt
den Untertitel „German Science Fiction and Utopian Thought in the 20th and 21st
Century“ und beschäftigt sich mit dem, was in Deutschland abwechselnd
„Zukunftsroman“, „wissenschaftlich-technische Erzählung“, „utopisch-phantastische
Literatur“ und seit etwas mehr als einem halben Jahrhundert „Science Fiction“
genannt wird. (Wobei Cornils von Beginn an darauf hinweist, dass er die
gleichzeitig entstandenen Filme mit einbezieht.) Anhand einer begrenzten, aber
wohlerwogenen, Textauswahl nimmt Cornils die in den letzten 125 Jahren
entstandenen Zukunftserzählungen unter die Lupe und untersucht sie auf Inhalt,
Stil, Ideengehalt und Eigenständigkeit hin, vergleicht sie mit der zeitgleichen
„normalen“ Literatur und der seit zirka 1930 dominanten englischsprachigen
Science Fiction. Cornils beginnt erwartungsgemäß bei Kurd Laßwitz, nimmt Paul
Scheerbart und Bernhard Kellermann
hinzu, schaut kurz auf Hans Dominik
und die „Exoten“ Alfred Döblin, Ri Tokko
und Werner Illing, bevor er die
Nachkriegszeit mit ihren Spitzenleistungen von Hermann Hesse, Ernst Jünger und Arno Schmidt beleuchtet. Soweit, so gut. Spannend wird es dann im
weiteren Verlauf, wo sich Cornils als echter Kenner erweist. Von den etwas mehr
als siebzig Titeln seiner „Chronological List of German SF Novels“ sind fast
fünfzig nach dem Jahr 2000 erschienen. (Selbst mir waren einige dieser Titel
entgangen!) Dabei kommen Bestseller-AutorInnen wie Juli Zeh, Frank Schätzing, Dietmar Dath, Andreas Eschbach, Tom
Hillenbrand oder Marc-Uwe Kling
ebenso zum Zug wie die noch unbekannteren Joachim
Zelter, Florian Felix Weyh, Richard M. Weiner, Theresa Hannig oder Bijan Moini. Gleiches gilt für die
Regisseure, von Fritz Lang, Rainer
Werner Fassbinder und Werner Herzog
bis Philip Koch, Stefan Ruzowitzky und Sebastian Hilger. In seiner
„Conclusion“ zieht Cornils das Fazit, dass die SF in Deutschland, nach einem
furiosen Auftakt, während der Nazizeit den Anschluss verloren hat. Inzwischen
hat sich eine eigenständige, auf dem „utopischen Denken“ basierende,
phantastische Literatur deutscher Ausprägung etabliert, die dabei ist, internationales
Niveau zu erreichen. Größtes Hindernis dabei ist derzeit die „Berührungsangst“
vieler Akademiker und Intellektueller.
„Bibliophile werden zu Phonographophilen, die rare Aufnahmen
sammeln. Sie werden ihre Zylinder, wie ehedem Bücher, in goldverzierte
Lederetuis mit symbolischen Ornamenten binden lassen. Auf den Etuis sind die
Titel zu lesen, und die kostbarsten Exemplare sind Zylinder mit einmaligen
Aufnahmen der Stimme eines Meisters der Theater-, Dicht- oder Tonkunst oder mit
unerwarteten oder unveröffentlichten Varianten eines berühmten Werkes.“
Octave Uzanne – DAS ENDE DER BÜCHER
„Diesen
Abend war ich mit Lorena ausgegangen. Sie sah toll aus [und] war in ihrer
üblichen Stimmung, aus dem üblichen Grund. Sie wollte […] einen Ehevertrag für
fünf Jahre mit mir unterschreiben. Bei dem Vorschlag blieb ich so kalt wie der
Grabstein eines Eskimos.“
Keith Laumer – „Die Bodybuilder“ (1968/1976);
in: DER KRIEG GEGEN DIE YUKKS (S.7);
Terra Taschenbuch 273;
Übersetzung von Jürgen Saupe