TEMPORAMORES - Newsletter # 348 - 22.10.2021




KURZMELDUNGEN

Fast schon ein liebgewonnenes Ritual – aber immer noch ist DAS SCIENCE FICTION JAHR das einzige Sekundärwerk, auf dessen Erscheinen ich mich regelmäßig schon lange im Voraus freue. Und auch die 36. Ausgabe 2021 (Hirnkost, ISBN 978-3-949452-12-3) hat mich nicht enttäuscht. Um nicht einfach nur das Inhaltsverzeichnis abzuschreiben, hier eine launige Kurz-Interpretation der Beiträge: Die Welt geht unter, aber wir SF-Leser wussten das wenigstens schon vorher wie gleich ein Dutzend Artikel beweisen. Stanislaw Lem wäre 2021 einhundert Jahre alt geworden, auch dieses Ereignis wird intensiv, spielerisch und philosophisch gewürdigt. 200 Seiten Buchbesprechungen unterschiedlicher Länge versprechen unglaublich viel Information (und jede Menge „Nachkauf-Bedarf“). Etwas kürzer dann Comics, Film, TV, Spiele – etwas umfänglicher die Statistik-Sektion (Preise, Nachrufe, Bibliografie). Highlights: Christian Endres interviewt elf Orwell-Neu-ÜbersetzerInnen, Bernd Flessner und Karlheinz Steinmüller über ihre Lem-Eindrücke und Simon Spiegel liest ausführlich in Dietmar Daths NIEGESCHICHTE. Nach 600 Seiten purem SF-Input lautet das Fazit: Ich freue mich jetzt schon auf DAS SCIENCE FICTION JAHR 2022!

Auf dieses Buch hat die Welt gewartet. Und wenn nicht die Welt, so jedenfalls meine Wenigkeit, denn ich bin es leid, immer und immer wieder zu lesen (und zu hören), was alles nicht geht. Aber auf den guten alten Kim Stanley Robinson kann man sich halt verlassen! Immer wenn man glaubt, es gäbe keine Utopien mehr, kommt dieser altgediente Kämpe daher und zeigt uns, was alles möglich ist!! Sein neuester Roman trägt den unschlagbaren Titel DAS MINISTERIUM FÜR DIE ZUKUNFT (Heyne, ISBN 978-3-453-32170-0, 717 S.) und er beginnt mit einer Katastrophensequenz, die so wie beschrieben tatsächlich Morgen oder nächste Woche passieren könnte. Was sie von andren Katastrophen unterscheidet (jedenfalls bei Robinson) ist, dass jemand daraus Konsequenzen zieht. „Jemand“ sind hier viele, teilweise sehr unterschiedliche, Individuen und Gruppen, und auch die „Konsequenzen“ reichen von verstärkter politischer Arbeit bis hin zu brutalstem Ökoterrorismus und staatlichen Kurzschlussreaktionen. Allerdings entwickelt sich in DAS MINISTERIUM FÜR DIE ZUKUNFT daraus keine Apokalypse, sondern all diese Reaktionen führen zur Akkumulation von etwas Positivem, zu einem Umdenken bei so vielen Menschen, dass erstmals seit vielen Jahrzehnten ein Lichtstreif am Horizont auftaucht und eine klimaneutralere, gerechtere Welt vorstellbar wird. Robinson bietet keine fertigen Lösungen an, aber er zeigt Wege und Möglichkeiten, und wie seine Protagonisten Mary und Frank müssen wir uns schon selbst entscheiden, welchen Weg wir gehen, welche Möglichkeit wir ergreifen wollen. Barack Obama hat jedenfalls Recht mit seinem auf dem Cover zitierten Ausspruch: „EINES DER WICHTIGSTEN BÜCHER DES JAHRES!“

Trotz aller Widrigkeiten (der Verlagsort Stolberg gehört zum Flutkatastrophengebiet) ist die aktuelle Nummer 84 der phantastisch! (Atlantis) pünktlich erschienen. Respekt schon mal dafür. Hinter dem tollen Cover von Dirk Berger folgen 88 vollgepackte Seiten mit Interviews, Buch­besprechungen, Artikeln, Comics und Cartoons sowie zwei Kurzgeschichten, diesmal von Christian Endres und Roland Grohs (plus eine „Microstory“ von Volker Dornemann).

Von Neal Stephenson ist die Neuausgabe seines Frühwerks SNOW CRASH (ISBN 978-3-596-70559-7, 572 S.) eingetrudelt. Der 1992 erstmals im Original erschienene Cyberpunk-Kult-Roman gehört seit seiner ersten Deutschen Ausgabe, die Joachim Körber 1995 für Goldmann anfertigte, zu den gesuchtesten „Den-musst-Du-gelesen-haben“-Titeln des Autors. Jetzt hat TOR bei Alexander Weber eine komplette Neuübersetzung in Auftrag gegeben, die natürlich keinen „anderen“ Roman aus dem Hut zaubert, aber doch zeigt, dass gerade solche „Zeitgeist“-Bücher durch eine Sprachauffrischung nur gewinnen können. Bei der (erneuten) Lektüre erweist sich SNOW CRASH dann als überaus flott zu lesende Science Fiction, die im Gegensatz zu vielen zeitgleich erschienenen Titeln auch nach dreißig Jahren immer noch Punkten kann. Die Fans von Ernest Clines READY PLAYER ONE kommen hier jedenfalls voll auf ihre Kosten und sehen dabei auch noch, wo die heutige Blütenpracht der VR-Games ihre Wurzeln hat.

Man durfte gespannt sein, was sich Andreas Eschbach nach seinem 2020er Blockbuster-Titel EINES MENSCHEN FLÜGEL als nächstes einfallen lassen würde. Nun ist bei Arena mit GLISS – TÖDLICHE WEITE (ISBN 978-3-401-60581-4, 450 S.) ein Jugendbuch erschienen, in dem der gebürtige Schwabe einige der Themen aus dem letztjährigen TEMPORAMORES-Award-Gewinnertitel recycelt. Eine in der Abgeschiedenheit der „Gliss“-Weite lebende Gruppe Menschen hält sich für das Zentrum der Welt und hält daran fest, bis Ereignisse von Außerhalb diesen Mythos zerbrechen lassen. Drei jugendliche Freunde nehmen ihr Herz in die Hand und verlassen ihre Heimat – was sie dabei entdecken, verändert nicht nur ihr Dorf, sondern eine ganze Welt. Für die 1. Auflage spendierte der Verlag einen dreiseitigen Farbschnitt, ein Lesebändchen und eine signierte Grußbotschaft Eschbachs auf dem Vorsatzpapier: die Sammler wird’s freuen.

So müssen Bücher über Drachen aussehen: Riesenformat und jede Menge Gold! Der Prestel Verlag hat mit DIE HÜTERIN DER DRACHEN (ISBN 978-3-7913-7483-3, 75 S., Hardcover im Überformat) ein absolut begeisterndes „Buch für Alle“ vorgelegt. Der Text stammt von Emma Roberts, die unter dem Pseudonym Curatoria Draconis auch gleichzeitig die „Hüterin der Drachen“ und Chefin der Drachen-Arche ist, die Bilder schuf Tomislav Tomic, das englische Original erschien 2020 unter dem Titel DRAGON ARK. Es geht in diesem illustrierten „Sachbuch“, das den Untertitel „Auf der Suche nach dem letzten Himmelsdrachen“ trägt, darum, dass der Lebensraum für Drachen auf unserer Welt immer weiter schrumpft. Die Mission der Drachen-Arche ist also die Rettung der letzten Drachen. Dazu bereisen die Crew-Mitglieder der Arche mit ihrem Schiff die Weltmeere und suchen auf allen Kontinenten nach den letzten Exemplaren der diversen Drachen-Unterarten. Was ihnen noch fehlt ist der Himmelsdrache Tian Long, der seit Jahrhunderten nicht mehr gesichtet wurde, aber Curatoria Draconis hofft, in den unzugänglichen Urwäldern des Jangtse doch noch fündig zu werden. Das Ergebnis zeigt die letzte Doppelseite im Format 37 mal 55 Zentimeter. DIE HÜTERIN DER DRACHEN ist ein Bilderbuch für Drachenliebhaber, das im Stil eines Biologie-Lehrbuchs eine Reihe mythischer Wesen aus den Nebeln des Vergessens in Bewusstsein zurückholt. Es ist hiermit offiziell meine erste „Weihnachtsgeschenk-Empfehlung“!

Und noch etwas für alle Menschen, die glauben, dass 25 verschiedene Ausgaben von DER HERR DER RINGE noch lange nicht genug sind. In der Hobbit Presse des Klett-Cotta Verlags ist soeben eine weitere Variante von J. R. R. Tolkiens Hauptwerk erschienen. Die einbändige Luxusausgabe (ISBN 978-3-608-98080-6) ist eine „Weltpremiere“: Erstmals werden hier die Illustrationen des Autors verwendet! Insgesamt 34 farbige Abbildungen sind enthalten, dazu zwei Karten von Christopher Tolkien. Ausstattung: Leinen, Fadenheftung, Farbschnitt mit Elben-Runen, Schutzumschlag, zwei Lesebändchen, farbiger Schuber – mehr geht nicht!



ZITAT

„Der Deliverator gehört einem Eliteorden an, einer geheiligten Subkategorie. Er ist motiviert bis in die Haarspitzen. Seine Uniform ist schwarz wie Aktivkohle, so schwarz, dass sie das Licht förmlich aus der Luft saugt. Kugeln würden von dem Gewebe aus Arachnofasern abprallen wie ein Zaunkönig, der gegen eine Verandatür kracht, überschüssiger Schweiß jedoch weht sanft hindurch wie eine laue Brise durch einen frisch napalmbombardierten Wald.“

Neal Stephenson SNOW CRASH (S. 7)



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