Erneut verhindern „die
Umstände“, dass eine Buchmesse „in echt“ stattfinden kann – erneut ist das ein
Hinweis darauf, welchen Stellenwert Kultur tatsächlich für unsere Gesellschaft
hat. Um das nicht einfach so hinzunehmen, wird dieser Newsletter wieder einmal
einen etwas größeren Umfang haben, denn glücklicherweise können auch diese „Umstände“
nicht verhindern, dass gute Bücher erscheinen. Hier also die Spitzenprodukte
der letzten Wochen!
Eine kleine Ewigkeit von vierzig
Jahren ist vergangen, seit Olaf
Stapledons Science-Fiction-Klassiker STERNENSCHÖPFER zuletzt im Handel
erhältlich war. Umso erfreulicher, dass Dieter
von Reeken den 1937 im Original erschienenen Roman jetzt in seiner
DvR-Buchreihe als STERNENSCHÖPFER
– STAR MAKER (ISBN 978-3-945807-76-5, 243 Seiten, kartoniert) in der
Übersetzung von Thomas Schlück neu
aufgelegt hat. Ein namenloser Mensch nimmt an einer kosmischen Weltschau teil,
die von den Ursprüngen, bis weit nach dem Erlöschen der letzten Atombewegung
reicht. Er durchreist das Universum, findet bewohnte Welten und beobachtet die
Entwicklung der dortigen Bewohner. Es läuft die immer gleiche Geschichte ab, in
der nach dem Erfolg einer Idee sofort eine Gegenbewegung einsetzt, welche die
Fortschritte zunichtemacht. Intuitiv hat Stapledon in seinem Buch eine Reihe
kosmologischer Phänomene beschrieben, die ihn als seiner Zeit weit voraus
zeigen. Sein Protagonist beobachtet ein Universum, dessen Bewohner zwei
Gemeinsamkeiten haben: Die Angst vor dem Ende und das Streben nach Gott. Stilistisch
bewegt sich der Autor zwischen detaillierten Beschreibungen utopischer Welten
und philosophisch-religiösen Überblicken. Obwohl er davon ausgeht, dass Leid,
Verzweiflung und Irrsinn die vorherrschenden Strömungen für das Leben in allen
seinen Formen darstellt, schafft er es aber auch, im Verlauf der Erzählung die
Ästhetik des Fremden und Unbegreiflichen immer weiter zu steigern. Olaf
Stapledon erweist sich in diesem Buch als großer Utopist und Mythenmacher –
vielleicht als der Größte überhaupt.
Viele Bücher von Neil Gaiman sind illustriert (und ich
spreche nicht von seinen Comics), und wenn Chris
Riddell mit am Start ist, lohnt es sich durchgängig, das Ergebnis in die
Sammlung aufzunehmen. Die aktuellste Zusammenarbeit der Beiden ist der schmale
Essay-Band KUNST IST WICHTIG (Eichborn, ISBN 978-3-8479-0114-3). Auf knapp 100
Seiten sind hier vier Texte Gaimans gesammelt, die ganz grob in die Richtung
„Lebenshilfe“ tendieren. Darunter natürlich seine berühmte Vorlesung MAKE GOOD
ART / MACHT GUTE KUNST, aber auch eine CREDO genannte Verteidigung der
Meinungsfreiheit und eine Lobpreisung von Büchern, Bibliotheken und
Bibliothekar*innen. Das alles wird durch die Bleistiftskizzen Riddells aufs
Schönste ergänzt und oftmals ironisch gebrochen. In diesem Zusammenspiel macht
selbst der Bericht darüber, was passieren kann, wenn ein Autor EINEN STUHL BAUEN
will, höllisch viel Vergnügen. Ein Buch für junge Künstler jeden Alters!
Die 1984 geborene Theresa Hannig entwickelt sich nach
ihrem überraschend erfolgreichen Erstlings-Duo DIE OPTIMIERER / DIE
UNVOLLKOMMENEN zu einer der interessantesten Autorinnen im Bereich der
deutschen Science Fiction. Bei Fischer TOR ist soeben ihr Roman PANTOPIA (ISBN
978-3-596-70640-2, 460 Seiten, Klappenbroschur) erschienen, in dem sie es
tatsächlich wagt, eine Utopie nicht nur anzudenken, sondern als
erfolgversprechende Möglichkeit durchzudeklinieren. Im Gegensatz zu den meisten
mir bekannten Büchern ihrer Kollegen, sieht Hannig in der Weiterentwicklung der
Künstlichen Intelligenz eine Chance (wenngleich auch nur eine kleine) für das
Überleben der menschlichen Zivilisation. Allein dafür gebührt ihr schon jede
Menge Respekt; unabhängig von solchen Vorschusslorbeeren zeigt sich dann zudem
noch, dass Hannig eine glänzende Erzählerin ist, sodass schon im Frühjahr einer
der wichtigsten Romane des Jahres 2022 vorliegt. Unbedingt lesenswert.
Und dann muss ich im
Wirtschaftsteil der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung lesen, dass meine soeben gemacht Bemerkung über den
Pessimismus von Autoren bezüglich der superklugen Computer und ihren
befürchteten negativen Einfluss auf unser Leben nur auf ungenügendes Wissen
meinerseits beruht. Denn die beiden chinesischen Wissenschaftler und Autoren Kai-Fu Lee und Quifan Chen haben gemeinsam einen Band mit „zehn Zukunftsvisionen“
verfasst, der unter dem Titel KI 2041 (ISBN 978-3-593-51549-6, 534 Seiten,
Hardcover) im Campus Verlag erschienen ist. Darin teilen sich der
Computerexperte Lee und der Science-Fiction-Starautor Chen die Arbeit: Chen hat
zehn Kurzgeschichten geschrieben, in denen die Interaktion zwischen KI und
Mensch im Mittelpunkt steht, und Lee analysiert danach jeweils, welchen
Realitätsgehalt die Geschichten bergen, welche Möglichkeiten mit welchen
Wahrscheinlichkeiten eintreten (oder eben auch nicht eintreten). Der gewählte
Zeitraum von zwanzig Jahren (das Original erschien 2021, die Geschichten
spielen alle im Jahr 2041) erscheint aus Sicht der Science Fiction nicht
besonders spektakulär, allerdings würden die meisten KI-Forscher sich wohl im
Moment schon bei Vorhersagen unwohl fühlen, die auch nur zwanzig Monate in die
Zukunft reichen. Wenn die Zukunftsliteratur im Wirtschaftsteil der Zeitung
stattfindet und nicht mehr im Feuilleton, dann ist es wohl auch nicht mehr weit
bis zum Eintritt der von Vernor Vinge
bzw. Ray Kurzweil prognostizierten „Singularität“.
In KI 2041 finden wir einige tröstliche und optimistische Ansichten darüber,
was das für uns bedeutet.
Ein ganzes Buch voller
Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe (1809–1849)
in Deutscher Erstveröffentlichung, das ist schon eine große Überraschung. Wie
es dazu kam, dass DIE ERZÄHLUNGEN DES FOLIO CLUB (Manesse, ISBN
978-3-7175-2480-9, 310 Seiten, Hardcover) erst jetzt erschienen sind, erklärt
sich aus der spannenden und komplizierten Editionsgeschichte des Originals, die
vom Übersetzer und Herausgeber Rainer
Bunz im umfangreichen Anhang und Nachwort detailversessen dargelegt wird.
Die Rahmenhandlung und die elf Stories gehören zu den frühesten Texten Poes und
wurden in dieser Form erst viele Jahre nach seinem Tod aus dem Nachlass
zusammengestellt. Die meisten Geschichten überarbeitete Poe später und in
diesen veränderten Fassungen sind sie auch bekannt geworden. Allerdings war
auch der frühe Poe schon ein vorzüglicher Erzähler und Spötter, was diesen
überwiegend satirischen Hommagen an die zeitgenössische Literatur und ihre
Verfasser sehr gut bekommt. Der handliche, sehr schön produzierte Band
(orangefarbener Schutzumschlag mit passendem Lesebändchen und gleichfarbigem
Garn für die Fadenheftung!) war eine echte Entdeckung für mich, die wohlige
Erinnerungen an ganz frühe Lektüreerlebnisse wachgerufen hat.
Wie es der Zufall will,
stolperte ich dann gleich nochmals über E.
A. Poe, bzw. dessen UNHEIMLICHE GESCHICHTEN, von denen mittlerweile zwei
Bände beim Verlag Jacoby und Stuart erschienen sind, und zwar mit den
außergewöhnlichen Illustrationen von Benjamin
Lacombe. Der Grund fürs „Stolpern“ waren jedoch die ebenfalls von Lacombe
illustrierten Bände GEISTERGESCHICHTEN AUS JAPAN (ISBN 978-3-96428-062-6, 190
Seiten) und JAPANISCHE GEISTER UND
NATURWESEN (ISBN 978-3-96428-111-1, 170 Seiten) von Lafcadio Hearn. Hearn, ein 1850 in Griechenland geborener und 1904
in Japan verstorbener Tausendsassa, war einer der wichtigsten Vermittler
kreolischer und japanischer Literatur und Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts.
Seine Sammlungen, vor allem der japanischen Geistergeschichten, hatten
prägenden Einfluss und werden bis heute immer wieder aufgelegt. Das Besondere
der zwei großformatigen Halbleinenbände, die Jacoby und Stuart mit großer Liebe
zum Detail produziert hat, sind die absolut einzigartigen Zeichnungen und
Gemälde von Benjamin Lacombe. Der 1982 in Paris geborene Lacombe veröffentlicht
seit etwa zwanzig Jahren und hat es in dieser Zeit auf mehr als dreißig Bücher
gebracht. Und nachdem ich jetzt vier von ihnen kenne, muss ich sagen, dass ich
mir gut vorstellen kann, noch das eine oder andere davon näher in Augenschein
zu nehmen.
Ein wenig mehr hatte ich mir
schon erhofft, als ich in der FAZ die
Besprechung eines neuen Sachbuchs von Christiane
Wyrwa entdeckte, dessen umfänglicher Titel mein Interesse weckte:
LITERARISCHE UTOPIEN VON FRAUEN VOM 15. BIS 20. JAHRHUNDERT. Das im Scaneg
Verlag erschienene Werk hat die ISBN 978-3-89235-126-0, 160 Seiten Umfang und
behandelt ein Thema, das mir seit vielen Jahren „unter den Nägeln brennt“. Dass
es utopisch-phantastische Literatur von Frauen gibt, und das nicht erst seit
fünf oder fünfzig Jahren, sollte sich inzwischen rumgesprochen haben. Trotzdem
gibt es zu diesem Thema immer noch zu wenig Sekundärliteratur, so dass Wyrwas
Buch, abgesehen von seiner Kürze, als unbedingt notwendig angesehen werden
kann. Den Reigen der „Utopistinnen“ eröffnet Christine de Pizan, die bereits 1405 DAS BUCH VON DER STADT DER
FRAUEN veröffentlichte. Über Margaret
Cavendish, Mary Shelley und Karin
Boye geht es zu Ursula K. Le Guin,
Marge Piercy und Esther Vilar,
bevor dann Margaret Atwood den
Schlussakkord setzt. 22 Autorinnen werden mit 25 Werken vorgestellt, im Anhang
gibt es zehn „Beispieltexte“ (kurze Auszüge, tlw. von der Herausgeberin
erstmals ins Deutsche gebracht), darunter der komplette Text von „Sultana’s
Dream“, einer utopischen Erzählung der Inderin Rokeya Sakhawat Hossain aus dem Jahr 1905.
Zum Schluss noch etwas
gänzlich anderes: Die „Biografie“ eines Verlags und seiner drei Gründer, ein
Sachbuch, das sich wie ein Krimi liest und Einblicke in ein bisher übersehenes
(oder verdrängtes) Kapitel des deutschen Literaturbetriebs in den 1930er Jahren
vermittelt. Die US-amerikanische Professorin Michele K. Troy legt mit DIE ALBATROSS CONNECTION – DREI
GLÜCKSRITTER UND DAS »DRITTE REICH« (Europa, ISBN 978-3-95890-380-7, 544
Seiten, Hardcover) das umfangreiche Ergebnis ihrer jahrelangen Studien vor, die
sich dem Verlag Albatross Press widmeten. Gegründet wurde Albatross von John Holroyd-Reece, Max Christian Wegner und Kurt Enoch im Jahr 1932. Die drei
hatten die unglaubliche Idee, im Schatten, den das heraufziehende „Dritte
Reich“ warf, von Deutschland aus den gesamten europäischen Kontinent mit den
herausragenden Werken der anglo-amerikanischen Literatur zu versorgen – und für
ganze sieben Jahre gelang es ihnen, entgegen aller Wahrscheinlichkeit! Troy
erzählt in ihrem Buch welche Energie, Intelligenz, Durchsetzungskraft, aber
auch wie viel Glück und Zufälle nötig waren, dieses Projekt ins Leben zu rufen
und für eine so lange Zeit „unter dem Radar“ der diversen
nationalsozialistischen Organisationen zu fliegen. Hier erfährt man zudem auch,
dass Albatross praktisch „nebenbei“ das moderne Taschenbuch erfunden und so auf
der ganzen Welt ein Medium für preiswerte Literaturvermittlung durchgesetzt
hat. Und so ist DIE ALBATROSS CONNECTION eine Lektüre für Menschen, die gerne
einmal „hinter die Kulissen“ schauen wollen.
„Meine lieben Mitbürger, lasst uns daher froh sein über all die
Maschinen, die uns jetzt unsere Arbeitsplätze streitig machen, lasst uns diese
willkommen heißen! Nur die eintönigsten und dümmsten Arbeiten können ja von
Automaten erledigt werden – geben wir sie ab! Seine Arbeit gegen eine Maschine
zu verteidigen, ist unter der Würde des Menschen, weil er sich so mit dieser
Maschine auf eine Stufe stellt. Nutzen wir die Gelegenheit – werden wir endlich
die, die wir sein sollten. Werden wir Wesen, die fühlen, träumen und denken.
Werden wir Menschen!
Esther Vilar – BITTE KEINEN MOZART
(in: Christiane
Wyrwa – LITERARISCHE
UTOPIEN VON FRAUEN VOM 15. BIS 20. JAHRHUNDERT, S. 145)
„Macht interessante Fehler, macht
erstaunliche Fehler, macht glorreiche und fantastische Fehler. Brecht die
Regeln. Macht die Welt interessanter … UND MACHT GUTE KUNST.“
Neil Gaiman – KUNST IST WICHTIG (unpaginiert)