TEMPORAMORES - Newsletter # 354 - 8.3.2022




KURZMELDUNGEN

Erneut verhindern „die Umstände“, dass eine Buchmesse „in echt“ stattfinden kann – erneut ist das ein Hinweis darauf, welchen Stellenwert Kultur tatsächlich für unsere Gesellschaft hat. Um das nicht einfach so hinzunehmen, wird dieser Newsletter wieder einmal einen etwas größeren Umfang haben, denn glücklicherweise können auch diese „Umstände“ nicht verhindern, dass gute Bücher erscheinen. Hier also die Spitzenprodukte der letzten Wochen!

Eine kleine Ewigkeit von vierzig Jahren ist vergangen, seit Olaf Stapledons Science-Fiction-Klassiker STERNENSCHÖPFER zuletzt im Handel erhältlich war. Umso erfreulicher, dass Dieter von Reeken den 1937 im Original erschienenen Roman jetzt in seiner DvR-Buchreihe als STERNENSCHÖPFER – STAR MAKER (ISBN 978-3-945807-76-5, 243 Seiten, kartoniert) in der Übersetzung von Thomas Schlück neu aufgelegt hat. Ein namenloser Mensch nimmt an einer kosmischen Weltschau teil, die von den Ursprüngen, bis weit nach dem Erlöschen der letzten Atombewegung reicht. Er durchreist das Universum, findet bewohnte Welten und beobachtet die Entwicklung der dortigen Bewohner. Es läuft die immer gleiche Geschichte ab, in der nach dem Erfolg einer Idee sofort eine Gegenbewegung einsetzt, welche die Fortschritte zunichtemacht. Intuitiv hat Stapledon in seinem Buch eine Reihe kosmologischer Phänomene beschrieben, die ihn als seiner Zeit weit voraus zeigen. Sein Protagonist beobachtet ein Universum, dessen Bewohner zwei Gemeinsamkeiten haben: Die Angst vor dem Ende und das Streben nach Gott. Stilistisch bewegt sich der Autor zwischen detaillierten Beschreibungen utopischer Welten und philosophisch-religiösen Überblicken. Obwohl er davon ausgeht, dass Leid, Verzweiflung und Irrsinn die vorherrschenden Strömungen für das Leben in allen seinen Formen darstellt, schafft er es aber auch, im Verlauf der Erzählung die Ästhetik des Fremden und Unbegreiflichen immer weiter zu steigern. Olaf Stapledon erweist sich in diesem Buch als großer Utopist und Mythenmacher – vielleicht als der Größte überhaupt.

Viele Bücher von Neil Gaiman sind illustriert (und ich spreche nicht von seinen Comics), und wenn Chris Riddell mit am Start ist, lohnt es sich durchgängig, das Ergebnis in die Sammlung aufzunehmen. Die aktuellste Zusammenarbeit der Beiden ist der schmale Essay-Band KUNST IST WICHTIG (Eichborn, ISBN 978-3-8479-0114-3). Auf knapp 100 Seiten sind hier vier Texte Gaimans gesammelt, die ganz grob in die Richtung „Lebenshilfe“ tendieren. Darunter natürlich seine berühmte Vorlesung MAKE GOOD ART / MACHT GUTE KUNST, aber auch eine CREDO genannte Verteidigung der Meinungsfreiheit und eine Lobpreisung von Büchern, Bibliotheken und Bibliothekar*innen. Das alles wird durch die Bleistiftskizzen Riddells aufs Schönste ergänzt und oftmals ironisch gebrochen. In diesem Zusammenspiel macht selbst der Bericht darüber, was passieren kann, wenn ein Autor EINEN STUHL BAUEN will, höllisch viel Vergnügen. Ein Buch für junge Künstler jeden Alters!

Die 1984 geborene Theresa Hannig entwickelt sich nach ihrem überraschend erfolgreichen Erstlings-Duo DIE OPTIMIERER / DIE UNVOLLKOMMENEN zu einer der interessantesten Autorinnen im Bereich der deutschen Science Fiction. Bei Fischer TOR ist soeben ihr Roman PANTOPIA (ISBN 978-3-596-70640-2, 460 Seiten, Klappenbroschur) erschienen, in dem sie es tatsächlich wagt, eine Utopie nicht nur anzudenken, sondern als erfolgversprechende Möglichkeit durchzudeklinieren. Im Gegensatz zu den meisten mir bekannten Büchern ihrer Kollegen, sieht Hannig in der Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz eine Chance (wenngleich auch nur eine kleine) für das Überleben der menschlichen Zivilisation. Allein dafür gebührt ihr schon jede Menge Respekt; unabhängig von solchen Vorschusslorbeeren zeigt sich dann zudem noch, dass Hannig eine glänzende Erzählerin ist, sodass schon im Frühjahr einer der wichtigsten Romane des Jahres 2022 vorliegt. Unbedingt lesenswert.

Und dann muss ich im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen, dass meine soeben gemacht Bemerkung über den Pessimismus von Autoren bezüglich der superklugen Computer und ihren befürchteten negativen Einfluss auf unser Leben nur auf ungenügendes Wissen meinerseits beruht. Denn die beiden chinesischen Wissenschaftler und Autoren Kai-Fu Lee und Quifan Chen haben gemeinsam einen Band mit „zehn Zukunftsvisionen“ verfasst, der unter dem Titel KI 2041 (ISBN 978-3-593-51549-6, 534 Seiten, Hardcover) im Campus Verlag erschienen ist. Darin teilen sich der Computerexperte Lee und der Science-Fiction-Starautor Chen die Arbeit: Chen hat zehn Kurzgeschichten geschrieben, in denen die Interaktion zwischen KI und Mensch im Mittelpunkt steht, und Lee analysiert danach jeweils, welchen Realitätsgehalt die Geschichten bergen, welche Möglichkeiten mit welchen Wahrscheinlichkeiten eintreten (oder eben auch nicht eintreten). Der gewählte Zeitraum von zwanzig Jahren (das Original erschien 2021, die Geschichten spielen alle im Jahr 2041) erscheint aus Sicht der Science Fiction nicht besonders spektakulär, allerdings würden die meisten KI-Forscher sich wohl im Moment schon bei Vorhersagen unwohl fühlen, die auch nur zwanzig Monate in die Zukunft reichen. Wenn die Zukunftsliteratur im Wirtschaftsteil der Zeitung stattfindet und nicht mehr im Feuilleton, dann ist es wohl auch nicht mehr weit bis zum Eintritt der von Vernor Vinge bzw. Ray Kurzweil prognostizierten „Singularität“. In KI 2041 finden wir einige tröstliche und optimistische Ansich­ten darüber, was das für uns bedeutet.

Ein ganzes Buch voller Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe (1809–1849) in Deutscher Erstveröffentlichung, das ist schon eine große Überraschung. Wie es dazu kam, dass DIE ERZÄHLUNGEN DES FOLIO CLUB (Manesse, ISBN 978-3-7175-2480-9, 310 Seiten, Hardcover) erst jetzt erschienen sind, erklärt sich aus der spannenden und komplizierten Editionsgeschichte des Originals, die vom Übersetzer und Herausgeber Rainer Bunz im umfangreichen Anhang und Nachwort detailversessen dargelegt wird. Die Rahmenhandlung und die elf Stories gehören zu den frühesten Texten Poes und wurden in dieser Form erst viele Jahre nach seinem Tod aus dem Nachlass zusammengestellt. Die meisten Geschichten überarbeitete Poe später und in diesen veränderten Fassungen sind sie auch bekannt geworden. Allerdings war auch der frühe Poe schon ein vorzüglicher Erzähler und Spötter, was diesen überwiegend satirischen Hommagen an die zeitgenössische Literatur und ihre Verfasser sehr gut bekommt. Der handliche, sehr schön produzierte Band (orangefarbener Schutzumschlag mit passendem Lesebändchen und gleichfarbigem Garn für die Fadenheftung!) war eine echte Entdeckung für mich, die wohlige Erinnerungen an ganz frühe Lektüreerlebnisse wachgerufen hat.

Wie es der Zufall will, stolperte ich dann gleich nochmals über E. A. Poe, bzw. dessen UNHEIMLICHE GESCHICHTEN, von denen mittlerweile zwei Bände beim Verlag Jacoby und Stuart erschienen sind, und zwar mit den außergewöhnlichen Illustrationen von Benjamin Lacombe. Der Grund fürs „Stolpern“ waren jedoch die ebenfalls von Lacombe illustrierten Bände GEISTERGESCHICHTEN AUS JAPAN (ISBN 978-3-96428-062-6, 190 Seiten)  und JAPANISCHE GEISTER UND NATURWESEN (ISBN 978-3-96428-111-1, 170 Seiten) von Lafcadio Hearn. Hearn, ein 1850 in Griechenland geborener und 1904 in Japan verstorbener Tausendsassa, war einer der wichtigsten Vermittler kreolischer und japanischer Literatur und Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts. Seine Sammlungen, vor allem der japanischen Geistergeschichten, hatten prägenden Einfluss und werden bis heute immer wieder aufgelegt. Das Besondere der zwei großformatigen Halbleinenbände, die Jacoby und Stuart mit großer Liebe zum Detail produziert hat, sind die absolut einzigartigen Zeichnungen und Gemälde von Benjamin Lacombe. Der 1982 in Paris geborene Lacombe veröffentlicht seit etwa zwanzig Jahren und hat es in dieser Zeit auf mehr als dreißig Bücher gebracht. Und nachdem ich jetzt vier von ihnen kenne, muss ich sagen, dass ich mir gut vorstellen kann, noch das eine oder andere davon näher in Augenschein zu nehmen.

Ein wenig mehr hatte ich mir schon erhofft, als ich in der FAZ die Besprechung eines neuen Sachbuchs von Christiane Wyrwa entdeckte, dessen umfänglicher Titel mein Interesse weckte: LITERARISCHE UTOPIEN VON FRAUEN VOM 15. BIS 20. JAHRHUNDERT. Das im Scaneg Verlag erschienene Werk hat die ISBN 978-3-89235-126-0, 160 Seiten Umfang und behandelt ein Thema, das mir seit vielen Jahren „unter den Nägeln brennt“. Dass es utopisch-phantastische Literatur von Frauen gibt, und das nicht erst seit fünf oder fünfzig Jahren, sollte sich inzwischen rumgesprochen haben. Trotzdem gibt es zu diesem Thema immer noch zu wenig Sekundärliteratur, so dass Wyrwas Buch, abgesehen von seiner Kürze, als unbedingt notwendig angesehen werden kann. Den Reigen der „Utopistinnen“ eröffnet Christine de Pizan, die bereits 1405 DAS BUCH VON DER STADT DER FRAUEN veröffentlichte. Über Margaret Cavendish, Mary Shelley und Karin Boye geht es zu Ursula K. Le Guin, Marge Piercy und Esther Vilar, bevor dann Margaret Atwood den Schlussakkord setzt. 22 Autorinnen werden mit 25 Werken vorgestellt, im Anhang gibt es zehn „Beispieltexte“ (kurze Auszüge, tlw. von der Herausgeberin erstmals ins Deutsche gebracht), darunter der komplette Text von „Sultana’s Dream“, einer utopischen Erzählung der Inderin Rokeya Sakhawat Hossain aus dem Jahr 1905.

Zum Schluss noch etwas gänzlich anderes: Die „Biografie“ eines Verlags und seiner drei Gründer, ein Sachbuch, das sich wie ein Krimi liest und Einblicke in ein bisher übersehenes (oder verdrängtes) Kapitel des deutschen Literaturbetriebs in den 1930er Jahren vermittelt. Die US-amerikanische Professorin Michele K. Troy legt mit DIE ALBATROSS CONNECTION – DREI GLÜCKSRITTER UND DAS »DRITTE REICH« (Europa, ISBN 978-3-95890-380-7, 544 Seiten, Hardcover) das umfangreiche Ergebnis ihrer jahrelangen Studien vor, die sich dem Verlag Albatross Press widmeten. Gegründet wurde Albatross von John Holroyd-Reece, Max Christian Wegner und Kurt Enoch im Jahr 1932. Die drei hatten die unglaubliche Idee, im Schatten, den das heraufziehende „Dritte Reich“ warf, von Deutschland aus den gesamten europäischen Kontinent mit den herausragenden Werken der anglo-amerikanischen Literatur zu versorgen – und für ganze sieben Jahre gelang es ihnen, entgegen aller Wahrscheinlichkeit! Troy erzählt in ihrem Buch welche Energie, Intelligenz, Durchsetzungskraft, aber auch wie viel Glück und Zufälle nötig waren, dieses Projekt ins Leben zu rufen und für eine so lange Zeit „unter dem Radar“ der diversen nationalsozialistischen Organisationen zu fliegen. Hier erfährt man zudem auch, dass Albatross praktisch „nebenbei“ das moderne Taschenbuch erfunden und so auf der ganzen Welt ein Medium für preiswerte Literaturvermittlung durchgesetzt hat. Und so ist DIE ALBATROSS CONNECTION eine Lektüre für Menschen, die gerne einmal „hinter die Kulissen“ schauen wollen.



ZITATE

„Meine lieben Mitbürger, lasst uns daher froh sein über all die Maschinen, die uns jetzt unsere Arbeitsplätze streitig machen, lasst uns diese willkommen heißen! Nur die eintönigsten und dümmsten Arbeiten können ja von Automaten erledigt werden – geben wir sie ab! Seine Arbeit gegen eine Maschine zu verteidigen, ist unter der Würde des Menschen, weil er sich so mit dieser Maschine auf eine Stufe stellt. Nutzen wir die Gelegenheit – werden wir endlich die, die wir sein sollten. Werden wir Wesen, die fühlen, träumen und denken. Werden wir Menschen!

Esther Vilar – BITTE KEINEN MOZART

(in: Christiane WyrwaLITERARISCHE UTOPIEN VON FRAUEN VOM 15. BIS 20. JAHRHUNDERT, S. 145)

 

„Macht interessante Fehler, macht erstaunliche Fehler, macht glorreiche und fantastische Fehler. Brecht die Regeln. Macht die Welt interessanter … UND MACHT GUTE KUNST.“

Neil Gaiman   KUNST IST WICHTIG (unpaginiert)



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