Was für eine Leistung: 75 (Prosa-)Bücher in 75
(Lebens-)Jahren – Happy Birthday, Stephen
King! Zu
diesem außergewöhnlichen Jubiläum (das am 21. September 2022 stattfand)
veröffentlichten Heyne und Reclam gleich drei Bücher; eines über den
amerikanischen Meisterautor, zwei von ihm. In Reclams „100 Seiten“-Reihe
erschien STEPHEN KING, eine Zusammenfassung von Leben und Werk, inklusive
kluger Anmerkungen zum Horror, zum Schreiben und zum Lesen von Deutschlands
King-Kenner Nummer 1 Dietmar Dath.
Eine lesenswerte Zwischenbilanz.
Denn,
und das ist die andere Seite, King hat sich selbst ein „märchenhaftes“
Geburtstagsgeschenk gemacht und den Roman FAIRY TALE geschrieben. (Habe ich es
schon mal gesagt: Ich hasse dieses geist- und phantasielose Übernehmen
englischsprachiger Originaltitel! Gerade bei FAIRY TALE muss doch eigentlich
nicht mal der Dümmste ins Wörterbuch schauen!!) King hat wieder einmal tief im
Archiv (oder in seinen Erinnerungen) gegraben und ist dort auf die Märchen
gestoßen, die er in seiner Kindheit erzählt bekommen oder gelesen hat. Das,
gepaart mit ein paar Versatzstücken aus Science Fiction, Fantasy und Horror,
ergibt dann einen handlichen 900-Seiten-Schmöker über das Erwachsenwerden eines
tollpatschigen jungen Mannes aus einer kleinen Stadt an der amerikanischen
Ostküste (der zugleich in einer „Anderwelt“ als tapferer Prinz einer Prinzessin
auf den Thron helfen muss). Melancholisches Spätwerk.
Ganz
anders kommt dagegen die (auf 10.000 Stück) „limitierte Prachtausgabe“ von ES
daher: Die ungekürzte Neuübersetzung von Kings Hauptwerk ist als Hardcover
schlappe 1360 Seiten stark, enthält fünf Farbtafeln von Max Löffler (eine davon als separater Siebdruck) sowie eine lose
beiliegende Zeitungsseite, die sich zum Papierschiffchenfalten anbietet. Der
Schmuckschuber hat auf der Vorderfront zwei Ausstanzungen, die gleichzeitig
den Titel bilden und als Gitter für einen hämisch grinsenden Clown (auf dem
Buchcover) dienen. Im Anhang findet man ein Glossar wichtiger Begriffe aus dem
Werk sowie – und hier schließt sich der Kreis – ein 30seitiges Nachwort von
Dietmar Dath.
So,
und jetzt zum „normalen“ Geschäft: Die Buchmesse in Frankfurt, der Herbst und
das wie immer völlig überraschend nahegerückte Weihnachtsfest werfen lange
Buchturmschatten. Meine SUB (Stapel unbearbeiteter Bücher) reichen bis zur
Schreibtischplatte (mehrfach) und die Wahl fällt schwer; deshalb wird es
diesmal wohl wieder ein mehrseitiger Newsletter.
Ganz
unten lag (Format, Gewicht) ein Buch über das ich schon mehrfach berichtet
habe, das aber immer wieder aufgrund fehlenden Nachschubs aus den Buchhandels-Regalen
verschwand. Nun ist ATLAS SHRUGGED, eine der ungewöhnlichsten Utopien aller
Zeiten, geschrieben von Ayn Rand und 1957 erstmals
veröffentlicht, in einer Neuübersetzung von Michael & Thomas Görden unter dem Titel DER FREIE MENSCH
(Hardcover, Großformat, 1500 Seiten, zwei Lesebändchen) 2021 im thinkum Verlag
erneut erschienen. Der Verlag bietet auf seiner Homepage reichlich
Informationen über die Autorin, ihre Werke und den von ihr begründeten
„Objektivismus“ – allerdings scheint DER FREIE MENSCH auch das einzige Buch zu
sein, das dort im Programm ist. Da die antiquarischen Preise für die früheren
Ausgaben (ATLAS WIRFT DIE WELT AB, WER IST JOHN GALT? und DER STREIK) ins
Unbezahlbare gestiegen waren, kann man sich über diese Neuausgabe nur freuen.
Denn auch wenn Ayn Rands utopische Vorstellungen einer kapitalistischen
Weltordnung für „Normalmenschen“ nur schwer erträglich sind, so handelt es sich
doch um ein Buch, dessen Kenntnis ich für wichtig erachte.
Wenn
wir schon bei den „alten Schmökern“ sind, will ich gleich noch auf zwei Titel
hinweisen, die ich vom Elstercon aus Leipzig mitgebracht habe: Der Hirnkost
Verlag hat in seiner Reihe „Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen
Science Fiction“ die Bände 3 – INI von Julius von Voss (Vorwort: Hans Frey, Nachwort: Hans Esselborn, 280 Seiten) und 4 – DIE
GROSSE REVOLUTION & LESABENDIO von Paul
Scheerbart (Vorwort: Michael Marrak,
Nachwort: Hans Frey, 410 Seiten)
herausgebracht. Mit dem 1810 erstveröffentlichten Roman INI liegt eines der
frühesten Werke der Science Fiction überhaupt endlich wieder in einer leicht
zugänglichen Ausgabe vor. Und Paul Scheerbarts Werke wurden zwar immer wieder
einmal nachgedruckt, allerdings zumeist in billigen Taschenbuchausgaben und
ohne Kontext. Und gerade seine Erzählungen bedürfen der Begleitworte, waren sie
doch schon zu seinen Lebzeiten ihren Lesern so unverständlich, dass der Autor
schlichtweg verhungert ist.
Was
den soeben erwähnten Michael Marrak
angeht (der in Leipzig übrigens eine sehens- und hörenswerte Performance
ablieferte), so gibt es auch von ihm Neues zu vermelden: Im Amrun Verlag ist
soeben mit CUTTER ANTE PORTAS (kartoniert, 240 Seiten) ein weiterer
„Kanon-Roman“ erschienen. Marrak, von dem auch der Einband sowie die
Innenausstattung des Buches stammen, erzählt hier von einer der beliebtesten
Nebenfiguren des Kanon-Universums, der Todes-Inkarnation Anax Thanatos. Und wie
er augenzwinkernd verriet, ist der Kanon groß genug für weitere Geschichten …
Wenn
ein Buch den bezaubernden Originaltitel THIS IS HOW YOU LOSE THE TIME WAR trägt
und dann auch noch HUGO, NEBULA und LOCUS Award abräumt, klingeln bei mir die
Alarmglocken und ich frage mich, welcher deutsche Verlag diesen Titel wohl
entdecken und veröffentlichen wird. Nun ist das Rätsel gelöst: Piper hat
VERLORENE DER ZEITEN (Hardcover, 190 Seiten) von Amal El-Mohtar und Max
Gladstone ins Programm genommen und mit Simon Weinert einen ausgezeichneten Übersetzer gewonnen. Dazu haben
sie dem außergewöhnlichen Werk auch noch einen ungewöhnlich hübschen
Schutzumschlag verpasst – alles richtig gemacht Piper Verlag!
Last
but not least: Die fleißigen Herausgeber Hardy
Kettlitz und Melanie Wylutzki
haben es mal wieder geschafft und DAS SCIENCE FICTION JAHR 2022 (Hirnkost,
Klappenbroschur, 570 Seiten) zusammengetragen, lektoriert, gesetzt und
veröffentlicht. Der Schwerpunkt liegt diesmal auf der privat finanzierten
Raumfahrt und den ökonomischen Interessen und Versuchungen, die dadurch
entstehen. Dazu gibt es wie gewohnt jede Menge Besprechungen und Informationen
zu Allem was die Science-Fiction-Gemeinde im letzten Jahr beschäftigt hat. Mehr
als dreißig Beiträger*innen widmeten ihre Zeit und Arbeitskraft diesem nach wie
vor unverzichtbaren Jahrbuch – also unbedingt kaufen!
„Leah und ich hielten uns an der Hand und betrachteten in einem
stillen Teich unser Spiegelbild. Meine Haare waren lang und golden, meine paar
Akneflecken waren verschwunden. Ich war ansehnlich und Leah war wunderschön …
Nur eines war fehl am Platz. Auf dem Schoß ihres roten Kleides hielt Prinzessin
Leah einen violetten Föhn.“
Stephen King – FAIRY TALE (S. 632)
„Zunächst muss jedoch festgestellt
werden, dass es offenbar leichter ist, sich ein Raumschiff mit
Lichtgeschwindigkeit vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Während der
Postkolonialismus bereits als Thema in der neuen Space Opera angekommen ist,
bleibt der Postkapitalismus noch nicht denkbar. Und was nicht vorstellbar ist,
kann auch nicht Zukunft werden.“
Aiki Mira – „Die neue Space Opera im
Zeitalter der kommerziellen Raumfahrt“;
in: Kettlitz & Wylutzki (Hrsg.) – DAS
SF JAHR 2022 (S. 314)