TEMPORAMORES - Newsletter # 363 - 21.9.2022




KURZMELDUNGEN

Was für eine Leistung: 75 (Prosa-)Bücher in 75 (Lebens-)Jahren – Happy Birthday, Stephen King! Zu diesem außergewöhnlichen Jubiläum (das am 21. September 2022 stattfand) veröffentlichten Heyne und Reclam gleich drei Bücher; eines über den amerikanischen Meisterautor, zwei von ihm. In Reclams „100 Seiten“-Reihe erschien STEPHEN KING, eine Zusammenfassung von Leben und Werk, inklusive kluger Anmerkungen zum Horror, zum Schreiben und zum Lesen von Deutschlands King-Kenner Nummer 1 Dietmar Dath. Eine lesenswerte Zwischenbilanz.

Denn, und das ist die andere Seite, King hat sich selbst ein „märchenhaftes“ Geburtstagsge­schenk gemacht und den Roman FAIRY TALE geschrieben. (Habe ich es schon mal gesagt: Ich hasse dieses geist- und phantasielose Übernehmen englischsprachiger Originaltitel! Gerade bei FAIRY TALE muss doch eigentlich nicht mal der Dümmste ins Wörterbuch schauen!!) King hat wieder einmal tief im Archiv (oder in seinen Erinnerungen) gegraben und ist dort auf die Märchen gestoßen, die er in seiner Kindheit erzählt bekommen oder gelesen hat. Das, gepaart mit ein paar Versatzstücken aus Science Fiction, Fantasy und Horror, ergibt dann einen handlichen 900-Seiten-Schmöker über das Erwachsenwerden eines tollpatschigen jungen Mannes aus einer kleinen Stadt an der amerikanischen Ostküste (der zugleich in einer „Anderwelt“ als tapferer Prinz einer Prinzessin auf den Thron helfen muss). Melancholisches Spätwerk.

Ganz anders kommt dagegen die (auf 10.000 Stück) „limitierte Prachtausgabe“ von ES daher: Die ungekürzte Neuübersetzung von Kings Hauptwerk ist als Hardcover schlappe 1360 Seiten stark, enthält fünf Farbtafeln von Max Löffler (eine davon als separater Siebdruck) sowie eine lose beiliegende Zeitungsseite, die sich zum Papierschiffchenfalten anbietet. Der Schmuck­schuber hat auf der Vorderfront zwei Ausstanzungen, die gleichzeitig den Titel bilden und als Gitter für einen hämisch grinsenden Clown (auf dem Buchcover) dienen. Im Anhang findet man ein Glossar wichtiger Begriffe aus dem Werk sowie – und hier schließt sich der Kreis – ein 30seitiges Nachwort von Dietmar Dath.


So, und jetzt zum „normalen“ Geschäft: Die Buchmesse in Frankfurt, der Herbst und das wie immer völlig überraschend nahegerückte Weihnachtsfest werfen lange Buchturmschatten. Meine SUB (Stapel unbearbeiteter Bücher) reichen bis zur Schreibtischplatte (mehrfach) und die Wahl fällt schwer; deshalb wird es diesmal wohl wieder ein mehrseitiger Newsletter.

Ganz unten lag (Format, Gewicht) ein Buch über das ich schon mehrfach berichtet habe, das aber immer wieder aufgrund fehlenden Nachschubs aus den Buchhandels-Regalen verschwand. Nun ist ATLAS SHRUGGED, eine der ungewöhnlichsten Utopien aller Zeiten, geschrieben  von Ayn Rand und 1957 erstmals veröffentlicht, in einer Neuübersetzung von Michael & Thomas Görden unter dem Titel DER FREIE MENSCH (Hardcover, Großformat, 1500 Seiten, zwei Lesebändchen) 2021 im thinkum Verlag erneut erschienen. Der Verlag bietet auf seiner Homepage reichlich Informationen über die Autorin, ihre Werke und den von ihr begründeten „Objektivismus“ – allerdings scheint DER FREIE MENSCH auch das einzige Buch zu sein, das dort im Programm ist. Da die antiquarischen Preise für die früheren Ausgaben (ATLAS WIRFT DIE WELT AB, WER IST JOHN GALT? und DER STREIK) ins Unbezahlbare gestiegen waren, kann man sich über diese Neuausgabe nur freuen. Denn auch wenn Ayn Rands utopische Vorstellungen einer kapitalistischen Weltordnung für „Normalmenschen“ nur schwer erträglich sind, so handelt es sich doch um ein Buch, dessen Kenntnis ich für wichtig erachte.

Wenn wir schon bei den „alten Schmökern“ sind, will ich gleich noch auf zwei Titel hinweisen, die ich vom Elstercon aus Leipzig mitgebracht habe: Der Hirnkost Verlag hat in seiner Reihe „Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“ die Bände 3 –  INI von Julius von Voss (Vorwort: Hans Frey, Nachwort: Hans Esselborn, 280 Seiten) und 4 – DIE GROSSE REVOLUTION & LESABENDIO von Paul Scheerbart (Vorwort: Michael Marrak, Nachwort: Hans Frey, 410 Seiten) herausgebracht. Mit dem 1810 erstveröffentlichten Roman INI liegt eines der frühesten Werke der Science Fiction überhaupt endlich wieder in einer leicht zugänglichen Ausgabe vor. Und Paul Scheerbarts Werke wurden zwar immer wieder einmal nachgedruckt, allerdings zumeist in billigen Taschenbuchausgaben und ohne Kontext. Und gerade seine Erzählungen bedürfen der Begleitworte, waren sie doch schon zu seinen Lebzeiten ihren Lesern so unverständlich, dass der Autor schlichtweg verhungert ist.

Was den soeben erwähnten Michael Marrak angeht (der in Leipzig übrigens eine sehens- und hörenswerte Performance ablieferte), so gibt es auch von ihm Neues zu vermelden: Im Amrun Verlag ist soeben mit CUTTER ANTE PORTAS (kartoniert, 240 Seiten) ein weiterer „Kanon-Roman“ erschienen. Marrak, von dem auch der Einband sowie die Innenausstattung des Buches stammen, erzählt hier von einer der beliebtesten Nebenfiguren des Kanon-Universums, der Todes-Inkarnation Anax Thanatos. Und wie er augenzwinkernd verriet, ist der Kanon groß genug für weitere Geschichten …

Wenn ein Buch den bezaubernden Originaltitel THIS IS HOW YOU LOSE THE TIME WAR trägt und dann auch noch HUGO, NEBULA und LOCUS Award abräumt, klingeln bei mir die Alarmglocken und ich frage mich, welcher deutsche Verlag diesen Titel wohl entdecken und veröffentlichen wird. Nun ist das Rätsel gelöst: Piper hat VERLORENE DER ZEITEN (Hardcover, 190 Seiten) von Amal El-Mohtar und Max Gladstone ins Programm genommen und mit Simon Weinert einen ausgezeichneten Übersetzer gewonnen. Dazu haben sie dem außergewöhnlichen Werk auch noch einen ungewöhnlich hübschen Schutzumschlag verpasst – alles richtig gemacht Piper Verlag!

Last but not least: Die fleißigen Herausgeber Hardy Kettlitz und Melanie Wylutzki haben es mal wieder geschafft und DAS SCIENCE FICTION JAHR 2022 (Hirnkost, Klappenbroschur, 570 Seiten) zusammengetragen, lektoriert, gesetzt und veröffentlicht. Der Schwerpunkt liegt diesmal auf der privat finanzierten Raumfahrt und den ökonomischen Interessen und Versuchungen, die dadurch entstehen. Dazu gibt es wie gewohnt jede Menge Besprechungen und Informationen zu Allem was die Science-Fiction-Gemeinde im letzten Jahr beschäftigt hat. Mehr als dreißig Beiträger*innen widmeten ihre Zeit und Arbeitskraft diesem nach wie vor unverzichtbaren Jahrbuch – also unbedingt kaufen!



ZITATE

„Leah und ich hielten uns an der Hand und betrachteten in einem stillen Teich unser Spiegelbild. Meine Haare waren lang und golden, meine paar Akneflecken waren verschwunden. Ich war ansehnlich und Leah war wunderschön … Nur eines war fehl am Platz. Auf dem Schoß ihres roten Kleides hielt Prinzessin Leah einen violetten Föhn.“

Stephen KingFAIRY TALE (S. 632)

 

„Zunächst muss jedoch festgestellt werden, dass es offenbar leichter ist, sich ein Raumschiff mit Lichtgeschwindigkeit vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Während der Postkolonia­lismus bereits als Thema in der neuen Space Opera angekommen ist, bleibt der Postkapitalismus noch nicht denkbar. Und was nicht vorstellbar ist, kann auch nicht Zukunft werden.“

Aiki Mira – „Die neue Space Opera im Zeitalter der kommerziellen Raumfahrt“;

in: Kettlitz & Wylutzki (Hrsg.) – DAS SF JAHR 2022 (S. 314)



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