TEMPORAMORES - Newsletter # 369 - 25.01.2023




KURZMELDUNGEN

Das Jahr 2023 startete mit milden Frühlingstemperaturen und Aprilwetter, brachte aber auch eine „Lawine“ neuer Bücher, die meinen Schreibtisch unter sich begruben. Nachdem ich inzwischen die Tastatur wiedergefunden habe, beginnen wir mit dem Freiräumen:

Die in Würzburg ansässige Spezialbuchhandlung HERMKES ROMANBOUTIQUE feierte im Januar ihr 42-jähriges Bestehen mit einer Festwoche, die fast jeden deutschen SF-Con der letzten Jahre in den Schatten stellte. Unter den Gästen waren u. a. Denis Scheck, Thomas Finn, Aiki Mira, Michael Marrak, Tom & Stefan Orgel, Jim Balent, Christopher Kloiber, Chris Noeth und Christian Krank. Da bot es sich an, die aktuellen Neuerscheinungen einiger Ehrengäste vorzustellen.

Beginnen wir mit DER UNDOGMATISCHE HUND (Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-04951-0, 288 S.) von Denis Scheck & Christina Schenk. Gemeinsam mit seiner Gattin erzählt der Autor in diesem von Torben Kuhlmann wunderschön illustriertem Buch eine „Liebesgeschichte zwischen einer Frau, einem Mann und einem Jack Russell“. Wer Denis Scheck schon einmal beim Plaudern zuhören durfte (wie wir jetzt in Würzburg), weiß, dass hier nicht nur eine „einfache“ Dreiecksgeschichte erzählt wird, sondern neben vielen lustigen Anekdoten aus der Welt der Hundebesitzenden natürlich auch die Literatur nicht zu kurz kommt. Der zweite Untertitel „Mit einem caniden Kanon“ deutet bereits darauf hin: Diesmal stehen Bücher im Mittelpunkt, deren mehr oder weniger heimliche Helden die besten Freunde des Menschen sind. DER UNDOG­MATISCHE HUND bietet eine entspannende und erholsame Lektüre, und das nicht nur, weil dabei mit Clifford D. Simaks ALS ES NOCH MENSCHEN GAB auch eines meiner absoluten Lieblingsbücher Erwähnung findet.

Mit dem erstmals 2010 als Taschenbuch erschienenen Roman WEISSER SCHRECKEN erfüllte sich der in Chicago geborene und heute in Hamburg lebende Thomas Finn seinen Traum, einmal einen stimmungsvollen Gruselroman zu schreiben. Munter vermischt Finn darin alteingesessene heidnische Bräuche der bayerischen „Ureinwohner“ mit Schreckensszenarien a la Lovecraft oder King. Nach der Lektüre der fast 500 Seiten sieht man jedenfalls den Nikolaus – und vor allem dessen unheimlichen Begleiter Knecht Ruprecht – mit ganz anderen Augen! Nachdem die Rechte an ihn zurückgefallen waren, fand Finn beim Buchheim Verlag offene Arme und konnte dort eine mehrfarbig gedruckte,  von Ben Baldwin illustrierte und um ein Rollen­spielszenario und diverse Beilagen erweiterte und auf 777 Exemplare limitierte Hardcover­ausgabe herausbringen. (Wer das breite Grinsen auf Tom Finns Gesicht bei der Buchpräsentation in Würzburg gesehen hat, weiß, dass hier ein Herzenswunsch in Erfüllung ging – und tatsächlich hat der Verlag selbst bei der Umsetzung eines Daumenkinos auf den Seitenrändern mit keiner Wimper gezuckt und auch diesen Autorenwunsch erfüllt.) Herausgekommen ist bei dieser Zusammenarbeit ein bibliophiles Meisterstück – fast zu schade, um es ganz profan seiner Bestimmung nach als Buch zum Lesen und Spielen zu benutzen.

Während Christ Noeth „nur“ Gratis-Poster und jede Menge Informationen zu seinen zwei neuen, demnächst bei Splitter erscheinenden SF-Comic-Serien dabeihatte (und natürlich jede Menge Sketche für seine Fans ablieferte), konnte das dynamische Christian-Duo Endres & Krank eine neue Gemeinschaftsarbeit vorlegen: den Horror-Comic THE WITCH – ES IST DEINE BEERDIGUNG (Yellow King Productions, 28 Seiten). Christian Krank hat sich eine Geschichte von Christian Endres geschnappt und sie als in düsteren Farben gezeichnete Tragödie adaptiert. Sein inzwischen unverwechselbarer Stil, die spärliche Kolorierung und die wohldosier­ten Schockelemente machen dieses One-Shot zu einem echten Erlebnis. Die strenge Limitierung und die drucktechnische Qualität sorgen für erhöhten Sammelwert. In der Romanboutique gibt es wohl noch einige Exemplare – bitte nachfragen!

Nach gleich zwei Romanen im Jahr 2022 startet Aiki Mira mit einer neuen Kurzgeschichte ins neue Jahr: „Nicht von dieser Welt“ erschien in der Ausgabe 32 von NOVA, dem „Magazin für spekulative Literatur“ (p.machinery, 230 Seiten) und wurde illustriert von Uli Bendick. Die anderen acht Stories sind u. a. von Frank W. Haubold und Wolf Welling. Die zugehörigen Farbillustrationen sind u. a. von Michael Wittmann und Klaus Brandt. Den Sekundärteil eröffnet Herausgeber Michael K. Iwoleit mit einem Essay über James Tiptree Jr., dann trauern Hans Esselborn, Dietmar Dath und Franz Rottensteiner um den im Sommer letzten Jahres verstor­benen Herbert W. Franke. Das Ganze ist eingebunden in einen provokativ illustrierten Umschlag – NOVA steht nach wie vor für Neues und Herausragendes.

Gleiches gilt auch für die 45. Ausgabe von EXODUS, die zum Jahresende 2022 erschien und wie immer überragende „Science Fiction Stories & phantastische Grafik“ enthielt. Der in der Galerie vorgestellte Künstler ist diesmal der „Space-Art-Kunstmaler“ Michael Böhme, die Illus zu den Geschichten stammen u. a. von Michael Vogt, Uli Bendick, Mario Franke und Gerd Frey, die Geschichten selbst u. a. von Christian Endres, Angela & Karlheinz Steinmüller, Norbert Stöbe und Michael Siefener. Umrahmt ist das alles von Gedichten, Cartoons und Comics, trotzdem sind die 120 Seiten wieder einmal viel zu schnell vorbei – und das Warten auf die nächste EXODUS-Ausgabe beginnt …

Gerade noch rechtzeitig zum Weihnachtsfest erschien die langerwartete, heißersehnte Ausgabe Nummer 4 von CAMP, dem weltbesten „Magazin für Comic, Illustration und Trivialkultur“. Nach dreijähriger Pause hatten die Herausgeber Volker Hamann und Matthias Hofmann endlich genug Material zusammen (und die nötige Zeit für ihr Lieblingsprojekt auf der Zeitsparkasse angehäuft) und was soll man sagen: Das Warten hat sich gelohnt. Bereits das Titelbild (von Beeple, dem auch die erste große Bilderstrecke gewidmet ist) ist spektakulär – und die Texte und Bilder im Inneren halten dieses Niveau. Es gibt reichbebilderte Artikel über die Kinderbuchillustratorin Ditz von Schneidewind, das seit einhundert Jahren andauernde Fortleben Nosferatus in der Neunten Kunst, über Spielzeug-Roboter aus Blech, über quadratische Pulp-Bücher in den USA, über die unschönen Seiten von Isaac Asimov, über „unbrennbare Bücher“ und die vielfältigen Arbeiten des Bilderkünstlers Richard Clifton-Dey. Als Autoren zeichnen u. a. Christian Blees, Alex Nevala-Lee, Horst Illmer und Heinz J. Galle. Das alles (und der ganze Rest) ist in einem wunderschönen, großzügigen und übersichtlichen Design gestaltet, das ständig zum Zurückblättern, intensiven Noch-mal-Betrachten, durch die Finger laufen lassen, an anderer Stelle festlesen und stetigem Erstaunen einlädt. An dieser Heftgestaltung können sich praktisch alle anderen (und nicht nur Genre-)Magazine ein Beispiel nehmen!

Das neue Jahr brachte dann auch gleich wieder zwei sehr schöne SF-Magazine, die noch mit der guten alten Klammerheftung hergestellt werden: die Ausgabe 89 der phantastisch! (Atlantis) und das Heft 7 von !Time Machine (Wurdack). Das Loben der phantastisch! ist ja obligatorisch, allerdings versteckt sich im ersten Heft des 23. Jahrgangs diesmal ein ausufernder Artikel über deutschsprachige Original-Anthologien, die zwischen 1910 und heute erschienen sind – inklusive einiger sehr seltener Bildbeispiele. Achtung Suchtgefahr!

Das von Udo Klotz & Christian Hoffmann herausgegebene „Science Fiction Fan-Zine“ !Time Machine eröffnet mit einem ebenso fulminanten wie umfangreichen Essay über Humor in der Science Fiction, wird angesichts der Lage der „ukrainischen Science Fiction“ jedoch schnell wieder ernst, betrachtet die Verwendung von Sprache in der SF, was durch „Exklusionszonen“ und „Zuchthäuser“ ergänzt wird. Mit 68 Seiten Umfang auf bestem Papier gedruckt lässt die neue !Time Machine keine Wünsche unerfüllt – unbedingt mal reinschauen!

Soeben erschienen und brandheiß hier vorgestellt: Die „Vol. 6“ von COZMIC (Atlantis), der einzigen „phantastischen Comic-Anthologie“ im Hardcover. Die Titelgeschichte ist diesmal von Krimalkin und überzeugt auf Anhieb durch eindrucksvollste Bildgewalt. Auch dabei: Frauke Berger, Sascha Dörp (war auch in Würzburg!), Michael Vogt u.v.a. Gänsehautmomente!!

Etwas überraschend für mich kam die Nachricht, dass der S. Fischer Verlag seinem Comic-Bestseller-Autor & -Zeichner Art Spiegelman zum 75. Geburtstag am 15. Februar ein neues Buch „schenkt“, bzw. dieses Jubiläum damit öffentlich würdigt. Ich hatte Spiegelman in den Jahren nach seinem großartigen IM SCHATTEN KEINER TÜRME (2004) ein wenig aus den Augen verloren und nur am Rande mitbekommen, dass ihm 2022 in den USA die „Medal for Distinguished Contribution to American Letters“ der National Book Foundation verliehen worden war. Umso erfreuter nahm ich die Gelegenheit wahr und brachte mich auf den neuesten Stand. Das neue Buch ist eine Science-Fiction-Geschichte von Robert Coover und trägt den Titel STREET COP (ISBN 978-3-10-397529-1, 130 S.) und Spiegelman tritt hier als Illustrator an Coovers Seite. Er fertigte den Umschlag sowie zwanzig farbige Bilder an, die nicht nur den Text bereichern, sondern Spiegelman auch dabei zeigen, wie er, in absoluter Höchstform, einen Spaziergang durch die Comic-Historie hinlegt. Von Winsor McCay über EC-Grusel-Comics bis hin zu Robert Crumbs U-Comix und seinen eigenen MAUS-Geschichten reichen die Zitatsplitter, wobei jederzeit das Spiegelman-Original erkennbar bleibt. Dabei musste ich auch zur Kenntnis nehmen, dass ich mit Robert Coover bisher einen nicht ganz unwichtigen amerika­nischen Avantgarde-Künstler total übersehen hatte, der zudem auch noch eine ganze Reihe phantastischer Werke geschrieben hat. (So z. B. den Alternativweltroman DIE ÖFFENTLICHE VERBRENNUNG und die Story-Sammlung SCHRÄGE TÖNE.) Und so wurde die Lektüre von STREET COP nicht nur zu einer kurzweiligen Entdeckungsreise, sondern auch zu einer Art Erweckungserlebnis. Jedenfalls steckt in den relativ kleinen Büchlein weit mehr, als ihm auf den ersten Blick anzusehen ist. Einfach mal reinschnuppern – da zeigen zwei Altmeister, dass sie noch lange nicht zum „alten Eisen“ gehören!

Am 22. Januar jährte sich bereits zum fünften Mal der Todestag von Ursula K. Le Guin, da war es eine tröstliche Koinzidenz, dass mir der S. Fischer Verlag kurz vorher die für Februar angekün­digte Neuübersetzung von DIE LINKE HAND DER DUNKELHEIT (ISBN 978-3-596-70712-6, 350 Seiten) zuschickte. Über die Handlung habe ich an anderer Stelle schon mehrfach geschrie­ben, wer den Plot dieses Buches noch nicht kennt, muss es eh selbst lesen, deshalb sollen eher meine Emotionen beim erneuten Lesen zur Sprache kommen. Während der Lektüre steigerte sich fast schmerzhaft die Empfindung, einer außergewöhnlichen Erzählerin dabei lauschen zu dürfen, wie sie nicht nur eine ganze neue Welt aufbaut, sondern auch viele Vorurteile niederreißt und dabei zugleich meine Seele tröstlich berührt. Le Guin ist die große Philosophin unter den Science-Fiction-Autorinnen, eine liebevoll und leichthändig Lehrende, und DIE LINKE HAND DER DUNKELHEIT ist unter ihren vielgestaltigen Meisterwerken eines der besten und wichtigsten. Umso schöner ist es da, dass dieser Klassiker jetzt in einer sehr gelungenen Neu­übersetzung von Karen Nölle wieder vorliegt.

 

So, jetzt sind es doch drei Seiten geworden – nicht schlecht für ein „1-Seiten-Fanzine“, das eigentlich nur den Rahm abschöpfen soll, von all den Neueingängen, die zwischen den einzelnen Erscheinungsterminen liegen. Aber diesmal ging es nicht kürzer. Ich hoffe, dass ich im Februar wieder zum „Normformat“ zurückkehren kann.

 

PS – Ich lese immer noch mit ungebrochener Begeisterung das Shaun Bythell-Buch!!



ZITAT

„Gegen Mittag schaffte es ein dicker Mann mit Pferdeschwanz, sich zwischen einem Stapel Kisten und der Science-Fiction-Abteilung einzuklemmen. Ich musste mehrere Kisten verschieben, um ihn zu befreien.“

Shaun Bythell, in: NEUE BEKENNTNISSE EINES BUCHHÄNDLERS (S. 198)



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