Das Jahr 2023 startete mit milden
Frühlingstemperaturen und Aprilwetter, brachte aber auch eine „Lawine“ neuer
Bücher, die meinen Schreibtisch unter sich begruben. Nachdem ich inzwischen die
Tastatur wiedergefunden habe, beginnen wir mit dem Freiräumen:
Die in Würzburg ansässige Spezialbuchhandlung
HERMKES ROMANBOUTIQUE feierte im Januar ihr 42-jähriges Bestehen mit einer
Festwoche, die fast jeden deutschen SF-Con der letzten Jahre in den Schatten
stellte. Unter den Gästen waren u. a. Denis
Scheck, Thomas Finn, Aiki Mira, Michael Marrak, Tom & Stefan Orgel, Jim Balent, Christopher Kloiber,
Chris Noeth und Christian Krank.
Da bot es sich an, die aktuellen Neuerscheinungen einiger Ehrengäste
vorzustellen.
Beginnen wir mit DER UNDOGMATISCHE HUND (Kiepenheuer
& Witsch, ISBN 978-3-462-04951-0, 288 S.) von Denis Scheck & Christina Schenk. Gemeinsam mit seiner Gattin
erzählt der Autor in diesem von Torben
Kuhlmann wunderschön illustriertem Buch eine „Liebesgeschichte zwischen
einer Frau, einem Mann und einem Jack Russell“. Wer Denis Scheck schon einmal
beim Plaudern zuhören durfte (wie wir jetzt in Würzburg), weiß, dass hier nicht
nur eine „einfache“ Dreiecksgeschichte erzählt wird, sondern neben vielen
lustigen Anekdoten aus der Welt der Hundebesitzenden natürlich auch die
Literatur nicht zu kurz kommt. Der zweite Untertitel „Mit einem caniden Kanon“
deutet bereits darauf hin: Diesmal stehen Bücher im Mittelpunkt, deren mehr
oder weniger heimliche Helden die besten Freunde des Menschen sind. DER UNDOGMATISCHE
HUND bietet eine entspannende und erholsame Lektüre, und das nicht nur, weil
dabei mit Clifford D. Simaks ALS ES
NOCH MENSCHEN GAB auch eines meiner absoluten Lieblingsbücher Erwähnung findet.
Mit
dem erstmals 2010 als Taschenbuch erschienenen Roman WEISSER SCHRECKEN erfüllte
sich der in Chicago geborene und heute in Hamburg lebende Thomas Finn seinen Traum, einmal einen stimmungsvollen Gruselroman
zu schreiben. Munter vermischt Finn darin alteingesessene heidnische Bräuche
der bayerischen „Ureinwohner“ mit Schreckensszenarien a la Lovecraft oder King.
Nach der Lektüre der fast 500 Seiten sieht man jedenfalls den Nikolaus – und
vor allem dessen unheimlichen Begleiter Knecht Ruprecht – mit ganz anderen
Augen! Nachdem die Rechte an ihn zurückgefallen waren, fand Finn beim Buchheim
Verlag offene Arme und konnte dort eine mehrfarbig gedruckte, von Ben
Baldwin illustrierte und um ein Rollenspielszenario und diverse Beilagen
erweiterte und auf 777 Exemplare limitierte Hardcoverausgabe herausbringen.
(Wer das breite Grinsen auf Tom Finns Gesicht bei der Buchpräsentation in
Würzburg gesehen hat, weiß, dass hier ein Herzenswunsch in Erfüllung ging – und
tatsächlich hat der Verlag selbst bei der Umsetzung eines Daumenkinos auf den
Seitenrändern mit keiner Wimper gezuckt und auch diesen Autorenwunsch erfüllt.)
Herausgekommen ist bei dieser Zusammenarbeit ein bibliophiles Meisterstück –
fast zu schade, um es ganz profan seiner Bestimmung nach als Buch zum Lesen und
Spielen zu benutzen.
Während
Christ Noeth „nur“ Gratis-Poster und
jede Menge Informationen zu seinen zwei neuen, demnächst bei Splitter
erscheinenden SF-Comic-Serien dabeihatte (und natürlich jede Menge Sketche für
seine Fans ablieferte), konnte das dynamische Christian-Duo Endres &
Krank eine neue Gemeinschaftsarbeit vorlegen: den Horror-Comic THE WITCH – ES IST DEINE BEERDIGUNG
(Yellow King Productions, 28 Seiten). Christian Krank hat sich eine Geschichte
von Christian Endres geschnappt und sie als in düsteren Farben
gezeichnete Tragödie adaptiert. Sein inzwischen unverwechselbarer Stil, die
spärliche Kolorierung und die wohldosierten Schockelemente machen dieses
One-Shot zu einem echten Erlebnis. Die strenge Limitierung und die
drucktechnische Qualität sorgen für erhöhten Sammelwert. In der Romanboutique
gibt es wohl noch einige Exemplare – bitte nachfragen!
Nach gleich zwei Romanen im Jahr 2022 startet
Aiki Mira mit einer neuen
Kurzgeschichte ins neue Jahr: „Nicht von dieser Welt“ erschien in der Ausgabe
32 von NOVA, dem „Magazin für
spekulative Literatur“ (p.machinery, 230 Seiten) und wurde illustriert von Uli Bendick. Die anderen acht Stories
sind u. a. von Frank W. Haubold und Wolf Welling. Die zugehörigen Farbillustrationen
sind u. a. von Michael Wittmann und Klaus Brandt. Den Sekundärteil eröffnet
Herausgeber Michael K. Iwoleit mit
einem Essay über James Tiptree Jr.,
dann trauern Hans Esselborn, Dietmar
Dath und Franz Rottensteiner um
den im Sommer letzten Jahres verstorbenen Herbert
W. Franke. Das Ganze ist eingebunden in einen provokativ illustrierten
Umschlag – NOVA steht nach wie vor
für Neues und Herausragendes.
Gleiches
gilt auch für die 45. Ausgabe von EXODUS,
die zum Jahresende 2022 erschien und wie immer überragende „Science Fiction
Stories & phantastische Grafik“ enthielt. Der in der Galerie vorgestellte
Künstler ist diesmal der „Space-Art-Kunstmaler“ Michael Böhme, die Illus zu den Geschichten stammen u. a. von Michael Vogt, Uli Bendick, Mario Franke und Gerd Frey, die Geschichten selbst u.
a. von Christian Endres, Angela &
Karlheinz Steinmüller, Norbert Stöbe und Michael Siefener. Umrahmt ist das alles von Gedichten, Cartoons
und Comics, trotzdem sind die 120 Seiten wieder einmal viel zu schnell vorbei –
und das Warten auf die nächste EXODUS-Ausgabe
beginnt …
Gerade noch rechtzeitig zum Weihnachtsfest
erschien die langerwartete, heißersehnte Ausgabe Nummer 4 von CAMP, dem weltbesten „Magazin für Comic,
Illustration und Trivialkultur“. Nach dreijähriger Pause hatten die Herausgeber
Volker Hamann und Matthias Hofmann endlich genug Material
zusammen (und die nötige Zeit für ihr Lieblingsprojekt auf der Zeitsparkasse
angehäuft) und was soll man sagen: Das Warten hat sich gelohnt. Bereits das
Titelbild (von Beeple, dem auch die
erste große Bilderstrecke gewidmet ist) ist spektakulär – und die Texte und
Bilder im Inneren halten dieses Niveau. Es gibt reichbebilderte Artikel über die
Kinderbuchillustratorin Ditz von
Schneidewind, das seit einhundert Jahren andauernde Fortleben Nosferatus in
der Neunten Kunst, über Spielzeug-Roboter aus Blech, über quadratische
Pulp-Bücher in den USA, über die unschönen Seiten von Isaac Asimov, über „unbrennbare Bücher“ und die vielfältigen
Arbeiten des Bilderkünstlers Richard
Clifton-Dey. Als Autoren zeichnen u. a. Christian Blees, Alex
Nevala-Lee, Horst Illmer und Heinz J. Galle. Das alles (und der
ganze Rest) ist in einem wunderschönen, großzügigen und übersichtlichen Design
gestaltet, das ständig zum Zurückblättern, intensiven Noch-mal-Betrachten,
durch die Finger laufen lassen, an anderer Stelle festlesen und stetigem
Erstaunen einlädt. An dieser Heftgestaltung können sich praktisch alle anderen (und
nicht nur Genre-)Magazine ein Beispiel nehmen!
Das
neue Jahr brachte dann auch gleich wieder zwei sehr schöne SF-Magazine, die
noch mit der guten alten Klammerheftung hergestellt werden: die Ausgabe 89 der phantastisch! (Atlantis) und das Heft 7
von !Time Machine (Wurdack). Das
Loben der phantastisch! ist ja
obligatorisch, allerdings versteckt sich im ersten Heft des 23. Jahrgangs
diesmal ein ausufernder Artikel über deutschsprachige Original-Anthologien, die
zwischen 1910 und heute erschienen sind – inklusive einiger sehr seltener
Bildbeispiele. Achtung Suchtgefahr!
Das von
Udo Klotz & Christian Hoffmann
herausgegebene „Science Fiction Fan-Zine“ !Time
Machine eröffnet mit einem ebenso fulminanten wie umfangreichen Essay über
Humor in der Science Fiction, wird angesichts der Lage der „ukrainischen
Science Fiction“ jedoch schnell wieder ernst, betrachtet die Verwendung von
Sprache in der SF, was durch „Exklusionszonen“ und „Zuchthäuser“ ergänzt wird.
Mit 68 Seiten Umfang auf bestem Papier gedruckt lässt die neue !Time Machine keine Wünsche unerfüllt –
unbedingt mal reinschauen!
Soeben
erschienen und brandheiß hier vorgestellt: Die „Vol. 6“ von COZMIC (Atlantis), der einzigen
„phantastischen Comic-Anthologie“ im Hardcover. Die Titelgeschichte ist diesmal
von Krimalkin und überzeugt auf
Anhieb durch eindrucksvollste Bildgewalt. Auch dabei: Frauke Berger, Sascha Dörp (war auch in Würzburg!), Michael Vogt u.v.a. Gänsehautmomente!!
Etwas
überraschend für mich kam die Nachricht, dass der S. Fischer Verlag seinem
Comic-Bestseller-Autor & -Zeichner Art
Spiegelman zum 75. Geburtstag am 15. Februar ein neues Buch „schenkt“, bzw.
dieses Jubiläum damit öffentlich würdigt. Ich hatte Spiegelman in den Jahren
nach seinem großartigen IM SCHATTEN KEINER TÜRME (2004) ein wenig aus den Augen
verloren und nur am Rande mitbekommen, dass ihm 2022 in den USA die „Medal for Distinguished Contribution to
American Letters“ der National Book Foundation verliehen worden war. Umso
erfreuter nahm ich die Gelegenheit wahr und brachte mich auf den neuesten
Stand. Das neue Buch ist eine Science-Fiction-Geschichte von Robert Coover und trägt den Titel STREET COP (ISBN 978-3-10-397529-1,
130 S.) und Spiegelman
tritt hier als Illustrator an Coovers Seite. Er fertigte den Umschlag sowie
zwanzig farbige Bilder an, die nicht nur den Text bereichern, sondern
Spiegelman auch dabei zeigen, wie er, in absoluter Höchstform, einen
Spaziergang durch die Comic-Historie hinlegt. Von Winsor McCay über EC-Grusel-Comics bis hin zu Robert Crumbs U-Comix und seinen eigenen MAUS-Geschichten reichen
die Zitatsplitter, wobei jederzeit das Spiegelman-Original erkennbar bleibt.
Dabei musste ich auch zur Kenntnis nehmen, dass ich mit Robert Coover bisher
einen nicht ganz unwichtigen amerikanischen Avantgarde-Künstler total
übersehen hatte, der zudem auch noch eine ganze Reihe phantastischer Werke
geschrieben hat. (So z. B. den Alternativweltroman DIE ÖFFENTLICHE VERBRENNUNG
und die Story-Sammlung SCHRÄGE TÖNE.) Und so wurde die Lektüre von STREET COP nicht nur zu einer
kurzweiligen Entdeckungsreise, sondern auch zu einer Art Erweckungserlebnis.
Jedenfalls steckt in den relativ kleinen Büchlein weit mehr, als ihm auf den
ersten Blick anzusehen ist. Einfach mal reinschnuppern – da zeigen zwei
Altmeister, dass sie noch lange nicht zum „alten Eisen“ gehören!
Am 22. Januar jährte sich bereits zum fünften
Mal der Todestag von Ursula K. Le Guin,
da war es eine tröstliche Koinzidenz, dass mir der S. Fischer Verlag kurz
vorher die für Februar angekündigte Neuübersetzung von DIE LINKE HAND DER
DUNKELHEIT (ISBN 978-3-596-70712-6, 350 Seiten) zuschickte. Über die Handlung
habe ich an anderer Stelle schon mehrfach geschrieben, wer den Plot dieses
Buches noch nicht kennt, muss es eh selbst lesen, deshalb sollen eher meine
Emotionen beim erneuten Lesen zur Sprache kommen. Während der Lektüre steigerte
sich fast schmerzhaft die Empfindung, einer außergewöhnlichen Erzählerin dabei
lauschen zu dürfen, wie sie nicht nur eine ganze neue Welt aufbaut, sondern auch
viele Vorurteile niederreißt und dabei zugleich meine Seele tröstlich berührt.
Le Guin ist die große Philosophin unter den Science-Fiction-Autorinnen, eine
liebevoll und leichthändig Lehrende, und DIE LINKE HAND DER DUNKELHEIT ist
unter ihren vielgestaltigen Meisterwerken eines der besten und wichtigsten.
Umso schöner ist es da, dass dieser Klassiker jetzt in einer sehr gelungenen
Neuübersetzung von Karen Nölle
wieder vorliegt.
So, jetzt sind es doch drei Seiten geworden –
nicht schlecht für ein „1-Seiten-Fanzine“, das eigentlich nur den Rahm
abschöpfen soll, von all den Neueingängen, die zwischen den einzelnen
Erscheinungsterminen liegen. Aber diesmal ging es nicht kürzer. Ich hoffe, dass
ich im Februar wieder zum „Normformat“ zurückkehren kann.
PS – Ich lese immer noch mit ungebrochener
Begeisterung das Shaun Bythell-Buch!!
„Gegen Mittag schaffte es ein dicker Mann mit
Pferdeschwanz, sich zwischen einem Stapel Kisten und der
Science-Fiction-Abteilung einzuklemmen. Ich musste mehrere Kisten verschieben,
um ihn zu befreien.“
Shaun Bythell, in: NEUE BEKENNTNISSE EINES BUCHHÄNDLERS (S. 198)