Korea, in naher Zukunft: Die
Entwicklung von menschenähnlichen Robotern, den sogenannten Humanoiden, ist
weit fortgeschritten. Reihenweise fallen Jobs im Niedriglohnsektor weg. Dies
trifft auch die Schülerin Yeonjae, die sich in einem Schnellimbiss etwas
Taschengeld dazuverdient. Als ihr gekündigt wird, erhält sie eine großzügige
Abfindung. Als sie kurz darauf zur Rennbahn geht, um ihre behinderte Schwester Eunhye
zu besuchen, die dort viel Zeit in den Stallungen verbringt, stolpert Yeonjae
im Wortsinn über einen schrottreifen Roboter-Jockey. Koli gehört zu den,
speziell für Pferderennen gebauten, ultraleichten Humanoiden, die lediglich
dazu da sind, die Rennpferde zu Höchstleistungen zu peitschen. Allerdings hat
Koli durch einen Zufall einen Emotions-Chip installiert, was zu seinem Sturz
von Today, dem schnellsten Pferd Koreas, führte, da er, statt sich auf das
Rennen zu konzentrieren, lieber den Himmel betrachtete und Überlegungen zu
dessen blauer Farbe anstellte. Yeonjae investiert ihre gesamte Abfindung in den
Kauf des Roboters, um ihn zuhause bei sich
wieder instand zu setzen. Doch Koli ist nicht das einzige Geschöpf, das Hilfe
braucht: auch Today soll, nachdem sie inzwischen kaum mehr laufen kann,
eingeschläfert werden. Trotz einiger Differenzen zwischen den Schwestern
schmieden die beiden gemeinsam mit Koli und ein paar Freundinnen und Verwandten
einen Plan zur Rettung von Today. Und der aus Ersatzteilen neu zusammengesetzte
Koli entwickelt sich zum ideenreichen „Mastermind“ im Hintergrund. Einmal
abgesehen von der spannend geschriebenen Geschichte war es ein
spezieller Aspekt von TAUSEND ARTEN VON BLAU (Golkonda, ISBN 978-3-96509-051-4,
366 S.), der mich fasziniert hat und dazu führte, dass ich das Buch nach dem
ersten Kapitel nicht mehr weglegen konnte: die Art und Weise wie Cheon Seon-Ran ihre Protagonistinnen
miteinander interagieren lässt. Mit großer Zärtlichkeit und Rücksichtnahme
schildert sie deren Motivationen für die
teilweise sehr ungewöhnlichen und verblüffenden Handlungen. TAUSEND ARTEN VON BLAU ist ein Pferdebuch,
in dem zwei Mädchen versuchen, das Schicksal eines von Menschen missbrauchten
Vierbeiners zu ändern – aber es ist eben auch ein auf hohem literarischen
Niveau erzählter Roman darüber, wie schwierig es manchmal ist, mit seinen
Mitmenschen klar zu kommen, sich ihnen zu öffnen und ihre Absichten zu
erkennen. Letztlich geht es darum, herauszufinden, was wir meinen, wenn wir von
„Mitleid“ und „Menschlichkeit“ sprechen. Und das ist Grund genug, dieses Buch
allen empfindsamen Leser*innen ans Herz zu legen.
Ein kleines, aber feines Büchlein hat der englische Meistererzähler
Alan Garner (*1934) soeben in der
Hobbit Presse vorgelegt. Sein TREACLE WALKER – DER WANDERHEILER (Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-98732-4, 154
S.) verlässt die eingefahrenen Pfade der modernen „High Fantasy“ und erzählt,
ganz im Stil von Lewis Carroll, eine „Spiegelwelt-Geschichte“.
„Der Augenblick, in dem man spürt, dass man
am Leben ist, ist ein glücklicher Augenblick. Am Leben sein heißt, dass man
atmet, und wenn man atmet, kann man das Zittern am ganzen Körper spüren. Und
der Moment, in dem der Körper sehr stark zittert, ist ein glücklicher Moment.”
Cheon
Seon-Ran – TAUSEND ARTEN VON
BLAU (S. 311)