TEMPORAMORES - Newsletter # 376 - 31.7.2023




KURZMELDUNGEN

Korea, in naher Zukunft: Die Entwicklung von menschenähnlichen Robotern, den sogenannten Humanoiden, ist weit fortgeschritten. Reihenweise fallen Jobs im Niedriglohnsektor weg. Dies trifft auch die Schülerin Yeonjae, die sich in einem Schnellimbiss etwas Taschengeld dazuver­dient. Als ihr gekündigt wird, erhält sie eine großzügige Abfindung. Als sie kurz darauf zur Rennbahn geht, um ihre behinderte Schwester Eunhye zu besuchen, die dort viel Zeit in den Stallungen verbringt, stolpert Yeonjae im Wortsinn über einen schrottreifen Roboter-Jockey. Koli gehört zu den, speziell für Pferderennen gebauten, ultraleichten Humanoiden, die lediglich dazu da sind, die Rennpferde zu Höchstleistungen zu peitschen. Allerdings hat Koli durch einen Zufall einen Emotions-Chip installiert, was zu seinem Sturz von Today, dem schnellsten Pferd Koreas, führte, da er, statt sich auf das Rennen zu konzentrieren, lieber den Himmel betrachtete und Überlegungen zu dessen blauer Farbe anstellte. Yeonjae investiert ihre gesamte Abfindung in den Kauf des Roboters, um ihn zuhause bei sich wieder instand zu setzen. Doch Koli ist nicht das einzige Geschöpf, das Hilfe braucht: auch Today soll, nachdem sie inzwischen kaum mehr laufen kann, eingeschläfert werden. Trotz einiger Differenzen zwischen den Schwestern schmieden die beiden gemeinsam mit Koli und ein paar Freundinnen und Verwandten einen Plan zur Rettung von Today. Und der aus Ersatzteilen neu zusammengesetzte Koli entwickelt sich zum ideenreichen „Mastermind“ im Hintergrund. Einmal abgesehen von der spannend geschriebenen Geschichte war es ein spezieller Aspekt von TAUSEND ARTEN VON BLAU (Golkonda, ISBN 978-3-96509-051-4, 366 S.), der mich fasziniert hat und dazu führte, dass ich das Buch nach dem ersten Kapitel nicht mehr weglegen konnte: die Art und Weise wie Cheon Seon-Ran ihre Protagonis­tinnen miteinander interagieren lässt. Mit großer Zärtlichkeit und Rücksichtnahme schildert sie deren Motivationen für die teilweise sehr ungewöhnlichen und verblüffenden Handlungen.  TAUSEND ARTEN VON BLAU ist ein Pferdebuch, in dem zwei Mädchen versuchen, das Schicksal eines von Menschen missbrauchten Vierbeiners zu ändern – aber es ist eben auch ein auf hohem literarischen Niveau erzählter Roman darüber, wie schwierig es manchmal ist, mit seinen Mitmenschen klar zu kommen, sich ihnen zu öffnen und ihre Absichten zu erkennen. Letztlich geht es darum, herauszufinden, was wir meinen, wenn wir von „Mitleid“ und „Menschlichkeit“ sprechen. Und das ist Grund genug, dieses Buch allen empfindsamen Leser*innen ans Herz zu legen.

Ein kleines, aber feines Büchlein hat der englische Meistererzähler Alan Garner (*1934) soeben in der Hobbit Presse vorgelegt. Sein TREACLE WALKER DER WANDERHEILER (Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-98732-4, 154 S.) verlässt die eingefahrenen Pfade der modernen „High Fantasy“ und erzählt, ganz im Stil von Lewis Carroll, eine „Spiegelwelt-Geschichte“.



ZITAT

„Der Augenblick, in dem man spürt, dass man am Leben ist, ist ein glücklicher Augenblick. Am Leben sein heißt, dass man atmet, und wenn man atmet, kann man das Zittern am ganzen Körper spüren. Und der Moment, in dem der Körper sehr stark zittert, ist ein glücklicher Moment.”

Cheon Seon-Ran TAUSEND ARTEN VON BLAU (S. 311)



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