TEMPORAMORES - Newsletter # 379 - 23.9.2023




KURZMELDUNGEN

Wir wollen mal nicht jammern – was sich da in Form bedruckter Blätter, wie alle Jahre im Bücherherbst, auf unsere Schreibtische ergießt, dient ja zum größten Teil unserer Erbauung und lässt unser Leser- und Sammlerherz schneller schlagen. Die ewige Frage „Muss es denn wirklich so viel sein?“ beantwortet das von Theodore Sturgeon aufgestellte Gesetz: „90 Prozent von allem ist Mist!“ Da ist es doch schön, wenn wir unsere 10 Prozent aus einem möglichst großen Haufen „Mist“ raussuchen können. Also wohlan, hier die Ergebnisse der ersten Sichtung.

Wow! Und ich dachte schon, die Reihe mit den „illuminierten“ Luxuseditionen des amerikani­schen Verlags Beehive Books bleibt der deutschsprachigen Leserschaft auf alle Zeiten verborgen. Jetzt wagt sich ausgerechnet die Münchener Verlagsbuchhandlung Liebeskind an eine deutsche Ausgabe – und startet diese, wie der Originalverlag, mit dem 1896  erstmals erschienenen Roman DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU (ISBN 978-3-95438-167-8, 176 Seiten, großformatiges Hardcover) von H. G. Wells. Das Buch gehört zu den umstrittensten Werken des englischen Großmeisters, vor allem wegen der ausführlich geschilderten Grausamkeiten, die der auf der Insel gestrandete Schiffbrüchige Edward Prendick mit ansehen muss, während er bei Dr. Moreau und dessen Helfer Montgomery „zu Gast“ ist. Da Wells selbst Lehramt mit dem Hauptfach Biologie studiert hat, gelingen ihm die Darstellung von Dr. Moreaus biologischen Experimenten mit Tier-Mensch-Hybriden so außerordentlich plastisch, dass es auch 125 Jahre später noch für Gänsehaut bei der Lektüre ausreicht. Besonders an dieser Neuedition sind das Vorwort von Guillermo del Toro und – unübersehbar – die Buchgestaltung mit Farbbildern und einfarbigen Illustrationen von Bill Sienkiewicz. Anders als del Toro, der DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU für Wells’ „wichtigsten Roman“ hält, bekennt sich Sienkiewicz dazu, ein KRIEG DER WELTEN-Fan zu sein, der DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU vor allem ausgewählt hat, um mit seinen Bildern ein Gegengewicht zu den diversen (und schlecht gemachten) Verfilmungen zu setzen – und das gelingt ihm vorzüglich, um das mindeste zu sagen. Nachdem der Verlag damit wirbt, dass Margaret Atwood das Werk für unvergesslich hält, Jorge Louis Borges den „frühen Wells“ bevorzugt und soeben DIE TOCHTER DES DOKTOR MOREAU der mexikanisch-kanadischen Autorin Silvia Moreno-Garcia im Limes Verlag veröffentlicht wurde, erscheint ein Blick ins Original durchaus (wieder einmal) empfehlenswert.

Es passiert ja relativ selten, dass es eine Nebenfigur aus einem Roman (bzw. einer ganzen Trilogie) schafft, ihren Schöpfer (sprich: den Autor) davon zu überzeugen, dass ihre eigene Geschichte es durchaus Wert ist, ebenfalls (ausführlich) erzählt zu werden. Nachdem mit HOLLY (Heyne, ISBN 978-3-453-27433-4, 640 Seiten, Hardcover) inzwischen das sechste Buch von Stephen King vorliegt, in dem Holly Gibney einen Auftritt hat – und diesmal dreht sich wirklich alles um sie – darf man King durchaus Glauben schenken, wenn er erklärt „irgendwie hat sie das Buch übernommen und mein Herz gestohlen“. Bevor 2024 dann der nächste Holly Gibney-Roman erscheinen wird, bleibt uns noch ein wenig Zeit für den soeben erschienen Grusel-Schmöker HOLLY.

Und weil wir schon dabei sind: Wenn im Splitter Verlag eine Zusammenarbeit von Stephen King und Bernie Wrightson erscheint, muss das nicht unbedingt ein Comic sein. DER WERWOLF VON TARKER MILLS (ISBN 978-3-98721-184-3, 136 Seiten, Hardcover) ist eine Kurzgeschichte in 12 Kapiteln mit farbigen und schwarzen Bildern. Die Hauptrolle dieser „Kalendergeschichten“ gehört natürlich dem Werwolf – aber ein Junge im Rollstuhl besiegt ihn.

Die Grundidee von Christian Gruenlers Roman EUROCAN 2033 (Europa, ISBN 978-3-95890-587-0, 750 Seiten, Klappenbroschur) ist ebenso einfach wie bestechend: Was passiert, wenn nichts passiert? Zehn Jahre weiter, 2033, ist Putin immer noch der Machthaber im Kreml, die Bundeskanzlerin heißt Annalena Baerbock, der Bundespräsident Robert Habeck und China und die USA ringen weiterhin darum, wer die „Nummer 1“ unter den Weltmächten beanspruchen kann. Dann lassen sich die Amerikaner von den Russen provozieren, die Chinesen überfallen Taiwan, die deutsche Kanzlerin wird bei einem Attentat schwer verletzt und Putin setzt alles auf eine Karte – der Atomkrieg beginnt. Innerhalb kürzester Zeit müssen alle beteiligten Regierungen weitreichende Entscheidungen treffen, die USA zeigen sich wankelmütig und Europa findet in Kanada einen neuen Partner … Gruenler ist Politikwissenschaftler und Mitglied diverser internationaler Verbindungen und hat das alles gut durchdacht und ausgesponnen. Sein Politthriller lenkt das Augenmerk auf die politischen Entscheidungsträger und ihre Beratergremien – Zukunftsschau mal wieder ohne die „lästigen“ Gegenwartsprobleme, dafür mit überraschend viel Frauenpower.

Wie wir aus sicherer Quelle erfuhren, war es vor allem der Wunsch des Autors Michael Marrak, von seinem zweiteiligen Horrorroman LEX TALIONIS und DE PROFUNDIS eine schön gebundene einbändige Luxusausgabe zu produzieren – und der Memoranda Verlag erfüllte ihm dies. Seit einigen Tagen wird nun der Band KASKADE (ohne ISBN, 692 Seiten) an die Vorbesteller ausgeliefert, der in einer auf 111 Exemplare limitierten und von Marrak signierten Hardcoveredition vorliegt. Anfragen nach Restexemplaren bitte direkt an den Verlag.

Vollkommen perplex war ich, als ich entdeckte, dass in der höchst angesehenen und anspruchsvollen Literaturreihe Die Andere Bibliothek als 462. Band der klassische Science-Fiction-Roman DIE PURPURNE WOLKE (ISBN 978-3-8477-0462-1, 320 Seiten, Hardcover im Halbschuber) von M. P. Shiel erschienen ist. Die Geschichte wurde um 1900 geschrieben, 1929 zu einem lesbaren Text umgearbeitet und 1982 erstmals auf Deutsch in der Reihe der Heyne SF Classics veröffentlicht. Die Neuausgabe in der Anderen Bibliothek wurde von Peter Torberg übersetzt und von Dietmar Dath mit einem umfassenden bio-bibliografischen Nachwort veredelt.

Nach 20 Jahren und 33 Ausgaben von NOVA, dem „Magazin für spekulative Literatur“ (p.machinery, ISBN 978-3-95765-351-2, 213 Seiten) verabschiedet sich mit Michael K. Iwoleit das letzte Gründungsmitglied aus der aktiven Radaktionsarbeit (bleibt aber als Ratgeber im Hintergrund erhalten), die nun vor allem in den Händen von Marianne Labisch und Dominik Irtenkauf liegen wird. Die aktuelle Ausgabe enthält 10 Stories (u. a. von Karsten Kruschel, Erik Wunderlich und dem Brasilianer Alex Souza) und einen etwas umfangreicheren Sekundär-Beitrag von Tanine Allison. Das Magazin ist durchgängig farbig illustriert, die Künstlerriege führen Uli Bendick, Gerd Frey und Mario Franke an, Detlef Klewer und Michael Wittmann sind sogar mit je zwei Bildern vertreten.

Drei Zeilen für Walter Moers? Müsste reichen! DIE INSEL DER TAUSEND LEUCHTTÜRME (Penguin, ISBN 978-3-328-60006-0, 635 Seiten, Hardcover) heißt der neue Zamonien-Roman. Hildegunst von Mythenmetz macht Urlaub auf einer Insel – spektakulär unterhaltsam!



ZITAT

„NOTIZ. – Der wesentliche Teil des ‚Doktor Moreau erklärt‘ betitelten Kapitels, welches die Grundidee der Geschichte enthält, erschien in Form eines populärwissenschaftlichen Beitrags im Januar 1895 in der Saturday Review. Dies ist der einzige Teil der Geschichte, der vorab veröffentlicht wurde. Um ihm eine erzählerische Form zu geben, wurde er komplett überarbeitet. Auch wenn es für Leser ohne wissenschaftliche Bildung seltsam klingt, besteht doch keinerlei Zweifel daran, dass, wie unglaubwürdig auch manches Detail dieser Geschichte erscheint, die Erschaffung von Untieren – vielleicht sogar von quasi-menschlichen Untieren – im Bereich der Möglichkeiten einer Vivisektion liegt.”

H. G. Wells – THE ISLAND OF DOCTOR MOREAU (S. 221)



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