Wir wollen mal nicht jammern –
was sich da in Form bedruckter Blätter, wie alle Jahre im Bücherherbst, auf
unsere Schreibtische ergießt, dient ja zum größten Teil unserer Erbauung und
lässt unser Leser- und Sammlerherz schneller schlagen. Die ewige Frage „Muss es
denn wirklich so viel sein?“ beantwortet das von Theodore Sturgeon aufgestellte Gesetz: „90 Prozent von allem ist
Mist!“ Da ist es doch schön, wenn wir unsere 10 Prozent aus einem möglichst
großen Haufen „Mist“ raussuchen können. Also wohlan, hier die Ergebnisse der
ersten Sichtung.
Wow! Und ich dachte schon, die
Reihe mit den „illuminierten“ Luxuseditionen des amerikanischen Verlags
Beehive Books bleibt der deutschsprachigen Leserschaft auf alle Zeiten
verborgen. Jetzt wagt sich ausgerechnet die Münchener Verlagsbuchhandlung
Liebeskind an eine deutsche Ausgabe – und startet diese, wie der Originalverlag,
mit dem 1896 erstmals erschienenen
Roman DIE INSEL
DES DOKTOR MOREAU (ISBN 978-3-95438-167-8, 176 Seiten, großformatiges Hardcover)
von H. G. Wells. Das Buch gehört zu
den umstrittensten Werken des englischen Großmeisters, vor allem wegen der
ausführlich geschilderten Grausamkeiten, die der auf der Insel gestrandete
Schiffbrüchige Edward Prendick mit ansehen muss, während er bei Dr. Moreau und dessen
Helfer Montgomery „zu Gast“ ist. Da Wells selbst Lehramt mit dem Hauptfach Biologie
studiert hat, gelingen ihm die Darstellung von Dr. Moreaus biologischen
Experimenten mit Tier-Mensch-Hybriden so außerordentlich plastisch, dass es
auch 125 Jahre später noch für Gänsehaut bei der Lektüre ausreicht. Besonders
an dieser Neuedition sind das Vorwort von Guillermo
del Toro und – unübersehbar – die Buchgestaltung mit Farbbildern und
einfarbigen Illustrationen von Bill
Sienkiewicz. Anders als del Toro, der DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU für
Wells’ „wichtigsten Roman“ hält, bekennt sich Sienkiewicz dazu, ein KRIEG DER
WELTEN-Fan zu sein, der DIE INSEL DES DOKTOR MOREAU vor allem ausgewählt hat,
um mit seinen Bildern ein Gegengewicht zu den diversen (und schlecht gemachten)
Verfilmungen zu setzen – und das gelingt ihm vorzüglich, um das mindeste zu
sagen. Nachdem der Verlag damit wirbt, dass Margaret Atwood das Werk für unvergesslich hält, Jorge Louis Borges den „frühen Wells“
bevorzugt und soeben DIE TOCHTER DES DOKTOR MOREAU der mexikanisch-kanadischen
Autorin Silvia Moreno-Garcia im
Limes Verlag veröffentlicht wurde, erscheint ein Blick ins Original durchaus (wieder
einmal) empfehlenswert.
Es passiert ja relativ selten,
dass es eine Nebenfigur aus einem Roman (bzw. einer ganzen Trilogie) schafft,
ihren Schöpfer (sprich: den Autor) davon zu überzeugen, dass ihre eigene
Geschichte es durchaus Wert ist, ebenfalls (ausführlich) erzählt zu werden.
Nachdem mit HOLLY (Heyne, ISBN 978-3-453-27433-4, 640 Seiten, Hardcover)
inzwischen das sechste Buch von Stephen
King vorliegt, in dem Holly Gibney einen Auftritt hat – und diesmal dreht
sich wirklich alles um sie – darf man King durchaus Glauben schenken, wenn er
erklärt „irgendwie hat sie das Buch übernommen und mein Herz gestohlen“. Bevor
2024 dann der nächste Holly Gibney-Roman erscheinen wird, bleibt uns noch ein
wenig Zeit für den soeben erschienen Grusel-Schmöker HOLLY.
Und weil wir schon dabei sind:
Wenn im Splitter Verlag eine Zusammenarbeit von Stephen King und Bernie
Wrightson erscheint, muss das nicht unbedingt ein Comic sein. DER WERWOLF
VON TARKER MILLS (ISBN 978-3-98721-184-3, 136 Seiten, Hardcover) ist eine
Kurzgeschichte in 12 Kapiteln mit farbigen und schwarzen Bildern. Die
Hauptrolle dieser „Kalendergeschichten“ gehört natürlich dem Werwolf – aber ein
Junge im Rollstuhl besiegt ihn.
Die Grundidee von Christian Gruenlers Roman EUROCAN 2033 (Europa, ISBN 978-3-95890-587-0, 750 Seiten,
Klappenbroschur) ist ebenso einfach wie bestechend: Was passiert, wenn nichts
passiert? Zehn Jahre weiter, 2033, ist Putin immer noch der Machthaber im Kreml,
die Bundeskanzlerin heißt Annalena Baerbock, der Bundespräsident Robert Habeck
und China und die USA ringen weiterhin darum, wer die „Nummer 1“ unter den
Weltmächten beanspruchen kann. Dann lassen sich die Amerikaner von den Russen
provozieren, die Chinesen überfallen Taiwan, die deutsche Kanzlerin wird bei
einem Attentat schwer verletzt und Putin setzt alles auf eine Karte – der
Atomkrieg beginnt. Innerhalb kürzester Zeit müssen alle beteiligten Regierungen
weitreichende Entscheidungen treffen, die USA zeigen sich wankelmütig und
Europa findet in Kanada einen neuen Partner … Gruenler ist
Politikwissenschaftler und Mitglied diverser internationaler Verbindungen und
hat das alles gut durchdacht und ausgesponnen. Sein Politthriller lenkt das
Augenmerk auf die politischen Entscheidungsträger und ihre Beratergremien –
Zukunftsschau mal wieder ohne die „lästigen“ Gegenwartsprobleme, dafür mit
überraschend viel Frauenpower.
Wie wir aus sicherer Quelle
erfuhren, war es vor allem der Wunsch des Autors Michael Marrak, von seinem zweiteiligen Horrorroman LEX TALIONIS
und DE PROFUNDIS eine schön gebundene einbändige Luxusausgabe zu produzieren –
und der Memoranda Verlag erfüllte ihm dies. Seit einigen Tagen wird nun der
Band KASKADE (ohne ISBN, 692 Seiten) an die Vorbesteller ausgeliefert, der in
einer auf 111 Exemplare limitierten und von Marrak signierten Hardcoveredition
vorliegt. Anfragen nach Restexemplaren bitte direkt an den Verlag.
Vollkommen perplex war ich, als
ich entdeckte, dass in der höchst angesehenen und anspruchsvollen
Literaturreihe Die Andere Bibliothek als 462. Band der klassische
Science-Fiction-Roman DIE PURPURNE WOLKE (ISBN 978-3-8477-0462-1, 320 Seiten,
Hardcover im Halbschuber) von M. P.
Shiel erschienen ist. Die Geschichte wurde um 1900 geschrieben, 1929 zu
einem lesbaren Text umgearbeitet und 1982 erstmals auf Deutsch in der Reihe der
Heyne SF Classics veröffentlicht. Die
Neuausgabe in der Anderen Bibliothek wurde von Peter Torberg übersetzt und von Dietmar Dath mit einem umfassenden bio-bibliografischen Nachwort
veredelt.
Nach 20 Jahren und 33 Ausgaben
von NOVA, dem „Magazin für spekulative Literatur“ (p.machinery, ISBN
978-3-95765-351-2, 213 Seiten) verabschiedet sich mit Michael K. Iwoleit das letzte Gründungsmitglied aus der aktiven
Radaktionsarbeit (bleibt aber als Ratgeber im Hintergrund erhalten), die nun
vor allem in den Händen von Marianne
Labisch und Dominik Irtenkauf
liegen wird. Die aktuelle Ausgabe enthält 10 Stories (u. a. von Karsten Kruschel, Erik Wunderlich und
dem Brasilianer Alex Souza) und
einen etwas umfangreicheren Sekundär-Beitrag von Tanine Allison. Das Magazin ist durchgängig farbig illustriert, die
Künstlerriege führen Uli Bendick, Gerd
Frey und Mario Franke an, Detlef Klewer und Michael Wittmann sind sogar mit je zwei Bildern vertreten.
Drei
Zeilen für Walter Moers? Müsste
reichen! DIE INSEL DER TAUSEND LEUCHTTÜRME
(Penguin, ISBN 978-3-328-60006-0, 635 Seiten, Hardcover) heißt der neue
Zamonien-Roman. Hildegunst von Mythenmetz macht Urlaub auf einer Insel –
spektakulär unterhaltsam!
„NOTIZ. – Der wesentliche Teil des ‚Doktor
Moreau erklärt‘ betitelten Kapitels, welches die Grundidee der Geschichte
enthält, erschien in Form eines populärwissenschaftlichen Beitrags im Januar
1895 in der Saturday Review. Dies ist
der einzige Teil der Geschichte, der vorab veröffentlicht wurde. Um ihm eine
erzählerische Form zu geben, wurde er komplett überarbeitet. Auch wenn es für
Leser ohne wissenschaftliche Bildung seltsam klingt, besteht doch keinerlei
Zweifel daran, dass, wie unglaubwürdig auch manches Detail dieser Geschichte erscheint,
die Erschaffung von Untieren – vielleicht sogar von quasi-menschlichen Untieren – im Bereich der Möglichkeiten einer
Vivisektion liegt.”
H. G. Wells – THE ISLAND OF DOCTOR MOREAU (S.
221)